Das Herz eines Löwen, die Seele eines Seeadlers
Die Autorin Antonia Michaelis war mir bisher immer nur als Schriftstellerin von Kinderbüchern bekannt. Als ich „Die Worte der Weißen Königin“ aus dem Regal nahm und noch einmal den Klappentext las, hatte ich auch keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Schließlich ist ein 10 – jähriger Junge der Protagonist. Jetzt im Nachhinein muss ich eingestehen, dass ich mich geirrt habe. Überhaupt ist die Festlegung des Genres für dieses Buch wirklich schwierig, weil es in viele Sparten der Literatur ein bisschen passt, aber in keine vollständig. Es ist alles und nichts, so viel und doch so wenig.
Vor allem ist es aber die Geschichte von Lion. Lion heißt zwar wie ein Löwe, doch schon immer wollte er lieber ein Seeadler sein. Zu Hause, in einem Dorf an der Ostsee, beobachtet er sie, seit er sie das erste Mal gesehen hat. Lion ist glücklich – bis zu dem Tag, an dem sein Vater das erste Mal vom Schwarzen König gefangen genommen wird. Der Schwarze König trinkt. Und er schlägt zu. Oft. Als Lion es nicht mehr aushält, weil der Schwarze König immer häufiger auftaucht, läuft er davon. Er möchte im Wald mit den Seeadlern leben. Doch eine Erinnerung lässt ihm keine Ruhe: die Erinnerung an die Weiße Königin, die ihm das Geschenk der Worte machte. Er glaubt, dass er bei ihr ein neues zu Hause finden kann. So macht Lion sich auf den Weg, die Weiße Königin zu finden.
Oh mein Gott, dieses Buch hat mich so tief berührt, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Was paradox ist, denn auf einer Ebene geht es in „Die Worte der Weißen Königin“ um die Macht der Worte und der Fantasie. Diese Geschichte, Lions Geschichte, ist die zauberhafte Erzählung eines zutiefst traumatisierten Jungen, der sich so allein, verlassen und machtlos fühlt, dass er sich Seeadlern anschließt. Bei ihnen, diesen wilden Tieren, findet er den Halt und die Geborgenheit, die er zu Hause von seinem Vater bzw. dem Schwarzen König nicht erfährt. Gleichzeitig entdeckt er, welche Magie in Geschichten steckt; wie sie ihn stärken und manchmal vor der Wut des Schwarzen Königs schützen. Das ist ein so wunderbarer Gedanke, dass etwas in mir ganz weich geworden ist beim Lesen. Es hat mir fast das Herz zerrissen, als ich mit Lion gemeinsam den ersten Angriff des Schwarzen Königs erleben musste. Ich habe wirklich mit den Tränen gekämpft, allein schon, weil Antonia Michaelis es so unnachahmlich versteht, sich in diesen kleinen Jungen hineinzuversetzen und seine Ich-Perspektive bis ins kleinste Detail auszuarbeiten. Natürlich kann Lion sich nicht vorstellen, dass sein Vater zu solcher Gewalt ihm gegenüber fähig ist. Natürlich musste er den Schwarzen König erfinden, um verstehen zu können. Für einen 10 – jährigen ist das sicher absolut logisch. Er brauchte einen Weg, um mit seiner Angst und seiner Wut fertig zu werden. Und Lion ist unfassbar wütend. Doch trotz seiner Wut entscheidet er sich letztendlich immer für die Liebe, für das Gute und Positive dieser Welt. Wie konnte ich Lion da nicht in mein Herz schließen?
Seine Reise auf dem Weg zu der Weißen Königin erinnerte mich ein bisschen an „Schiffbruch mit Tiger“. Zum einen ist sie seine Suche nach seinem Platz in der Welt; zum anderen ist sie so unglaublich, dass ich mich manchmal fragte, wie viel Realität ist und wie viel Lions Fantasie entspringt. Doch letztendlich ist es eben genau wie mit Pis Reise mit Richard Parker: es spielt überhaupt keine Rolle, ob die Geschichte nun stimmt oder nicht.
Vermutlich ist es wirklich möglich, dass ein Junge einfach in den Wald verschwindet und sich dort monatelang versteckt, wenn ihm das nötige Wissen vermittelt wurde. Diesen Gedanken fand ich sehr erschütternd; man sollte doch meinen, dass unsere überwachte Gesellschaft so etwas zu verhindern weiß. Andererseits möchte man auch annehmen, dass Gewalt und Misshandlungen Kindern gegenüber nicht möglich sind – trotzdem hören wir davon in regelmäßigen Abständen in den Nachrichten. Antonia Michaelis hat dieses sensibles Thema behutsam aufgegriffen und in eine unglaubliche, herzergreifende Geschichte verwandelt.
Und am Ende… hat Lion eben doch das Herz eines Löwen, obwohl er eher ein Seeadler ist.
„Die Worte der Weißen Königin“ ist ein äußerst bewegendes Buch, in dem Fantasie und Realität sehr eng miteinander verknüpft sind. Die Grenzen verwischen, daher möchte ich es nur an LeserInnen empfehlen, die es mit diesen Grenzen nicht so genau nehmen. Ich denke, wer knallhart an der Wirklichkeit festhält, wird mit diesem Buch keine Freude haben. Doch wer daran glauben kann, dass der Unterschied manchmal gar nicht so wichtig ist, kann guten Gewissens mit Lion und den Seeadlern auf die Reise gehen.
Nachwort:
Wenn jemand von euch das Buch bereits gelesen hat, bitte meldet euch bei mir. Es gibt da etwas, worüber ich gern sprechen würde, konnte es aber nicht in die Rezension integrieren, weil es eindeutig ein Spoiler gewesen wäre. :)