Aggressiv tragisches Trauerspiel
Das Anwesen Miramont Castle, das eine wichtige Rolle in „Miramont’s Ghost“ von Elizabeth Hall spielt, existiert tatsächlich. Es befindet sich in Manitou Springs, Colorado und wurde 1897 von dem französischen Priester Jean Baptiste Francolon für sich selbst und seine Mutter Marie Francolon erbaut. Die Francolons lebten dort allerdings nur drei Jahre. Sie verließen das Haus 1900 aus unbekannten Gründen fluchtartig und kehrten nie zurück, was bis heute zu Spekulationen einlädt. Man munkelt sogar, in dem alten Gebäude würden Geister ihr Unwesen treiben…
Es heißt, in Miramont Castle spukt es. Die Leute behaupten, manchmal könne man in dem Anwesen in Manitou Springs, Colorado eine junge Frau in einem altmodischen Kleid am Fenster stehen sehen. Sie berichten von Gegenständen, die sich wie von Geisterhand bewegen. Niemand ahnt, dass die junge Frau eine Gefangene ihrer eigenen Vergangenheit ist. Adrienne Beauvier wurde 1880 als Enkeltochter des Grafen von Challembelles in Frankreich geboren. Früh zeigte sich, dass sie anders war. Sie wusste Dinge, die sie nicht wissen sollte. Sie sah Dinge, die sie nicht sehen sollte. Als ihre Visionen begonnen, ihr die dunklen Geheimnisse ihrer Familie zu offenbaren, zog sie den Hass ihrer Tante Marie auf sich. Marie schreckte vor nichts zurück, um Adrienne zum Schweigen zu bringen. Sie entriss sie ihrem Heim und brachte sie ins ferne Amerika, nach Manitou Springs, in das Haus, das ihr Sohn Julien erbaut hatte. Sie zwang Adrienne, ihre aristokratische Herkunft zu verleugnen und ihr als Hausmädchen zu dienen. Doch die Geheimnisse, die Marie zu vertuschen versuchte, folgten ihnen. Sie holten sie ein. Heute sind Marie und Julien lange tot. Nur Adrienne ist noch immer dort…
„Miramont’s Ghost“ ist möglicherweise das tragischste Buch, das ich je gelesen habe. Es ist aggressiv tragisch, ein offensiver Angriff auf die Herzen der Leser_innen. Nach der Lektüre möchte man sich theatralisch schluchzend in eine Ecke werfen und nie mehr aufstehen, weil ernsthaft zu bezweifeln ist, dass die Sonne je wieder scheint. Dieser historische Schauerroman ist schwer zu ertragen, denn die gesamte Geschichte ist vom Mitleid der Leser_innen für die Protagonistin Adrienne abhängig und Elizabeth Hall zieht jedes Register, um sicherzustellen, dass sich auch ja alle vor Bedauern krümmen. Mir war das zu viel. Ich fühlte mich mit dem emotionalen Druck äußerst unwohl. Es war zu viel Leid; Hall überhäuft Adrienne mit Elend, sodass ich mich fragte, womit das arme Mädchen diese harte Bestrafung verdiente. Sie erlaubt Adrienne nicht, Einfluss auf die Handlung von „Miramont’s Ghost“ zu nehmen und verankert sie von Anfang an in einer starren Opferrolle, sodass meine Leseerfahrung ausschließlich daraus bestand, einen gramvollen Schicksalsschlag nach dem anderen zu beobachten. Adrienne darf sich nicht wehren, sie darf nicht reagieren, Hall zwingt sie, all das Unrecht, das ihr angetan wird, stoisch und tatenlos auszuhalten. Ich fand diesen passiven Fokus äußerst schwierig. Es ist bedrückend, eine Protagonistin zu begleiten, der es verboten ist, die Initiative zu ergreifen und für sich selbst einzustehen, besonders, wenn dieser Protagonistin durchaus Mittel zur Verfügung stünden, um sich selbst zu schützen. Adrienne besitzt hellseherisches Talent, bemüht sich jedoch niemals, Kontrolle über ihre Fähigkeiten zu erlangen. Sie lehnt ihre Visionen ab, wird von ihnen überwältigt und provoziert dadurch die Feindseligkeit ihrer Tante Marie, der sie hilflos ausgeliefert ist. Das Schlimmste daran ist, dass ihre Hellsichtigkeit noch nicht einmal einen Unterschied macht. Adrienne ist keine echte Bedrohung für Marie und Julien Francolon, sie ist lediglich eine diffuse Ergänzung ihrer ohnehin existierenden Konflikte, weil ihre Visionen ihr nicht verraten, welches Geheimnis die beiden verbergen. Maries Bosheit erschien mir deshalb übertrieben und ihre drastische Entscheidung, Adrienne nach Manitou Springs zu verschleppen, wirkte aus der Luft gegriffen, denn es gibt keine Vorgeschichte geringerer Grausamkeiten. Vor Adriennes Entführung äußert sich ihre angespannte Beziehung maximal in zornigen Blicken und schneidenden Kommentaren. Wieso Marie plötzlich beschließt, Adrienne endgültig kaltzustellen, konnte ich nicht nachvollziehen. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei um eine künstliche Eskalation, die Elizabeth Hall vornahm, um zwei Geschichten zu verbinden, die eigentlich nicht zusammenpassen. Sie wollte eine Erklärung für die mysteriöse, überstürzte Abreise von Mutter und Sohn aus Miramont Castle anbieten und dafür die Gerüchte über Geister in dem Anwesen nutzen, konnte mich allerdings nicht davon überzeugen, dass ein Zusammenhang bestehen könnte, weil Adrienne frappierend wenig mit den Motivationen der Francolons zu tun hat. In ihrer eigenen Biografie ist sie kaum mehr als eine Randfigur – wenn das mal nicht traurig ist.
Ich finde nicht, dass Elizabeth Hall die Verbindung von Fakten und Fiktion in „Miramont’s Ghost“ gelungen ist. Ihr mystisch angehauchtes Szenario, das das plötzliche Verschwinden der Francolons aus Miramont Castle erklären soll, empfinde ich als unglaubwürdig, weil sie nicht konsequent vorging. Um Adriennes Schicksal plausibel mit dem Duo zu verknüpfen, hätte sie ihrer Protagonistin Raum und Mut zum Handeln zugestehen müssen. Da sie Adrienne als paralysiertes Opfer charakterisiert, hat diese als Figur zu wenig Gewicht, um Einfluss auf die Geschichte zu nehmen. Sie ist irrelevant. Ihre hilflose Untätigkeit zieht sich leider durch das gesamte Buch, weshalb beim Lesen keine Spannung aufkam und ich mich nur über die Seiten hievte, weil ich darauf hoffte, dass dem bemitleidenswerten Häufchen Elend etwas Gutes widerfährt. Wenn ihr Lust habt, mal so richtig mit einer Figur zu leiden, ist „Miramont’s Ghost“ daher die passende Lektüre für euch – andernfalls muss ich abraten. Dieses Trauerspiel müsst ihr euch nicht antun.