Überraschend düster und beeindruckend originell
Adelina Amouteru soll sterben. Für den Mord an ihrem Vater wird die gnadenlose Inquisition der Krone Kenettras sie hinrichten. Dass es ein Unfall war, ausgelöst von einer fantastischen Fähigkeit, die jahrelang unentdeckt in ihr schlummerte, spielt keine Rolle, denn Adelina ist eine malfetto – eine Überlebende des Blutfiebers, das Kenettra vor über 10 Jahren heimsuchte. Am Tag ihrer Hinrichtung kommt jedoch alles anders. Noch während der Scheiterhaufen unter Adelinas Füßen brennt, bricht ihre Fähigkeit erneut aus ihr hervor und im Schutz des aufwallenden Chaos retten die Young Elites, malfettos mit ähnlichen Kräften wie Adelina selbst, sie aus den Händen der Inquisition. Die Young Elites nehmen Adelina bei sich auf und lehren sie, ihre Fähigkeit zu nutzen und zu kontrollieren. Schnell stellt sich heraus, dass sie mächtiger ist als alle Young Elites vor ihr. Doch ihr Talent ist tief mit der Dunkelheit in ihrem Herzen verbunden. Als sie zwischen die Fronten der Inquisition und der Young Elites gerät, muss sie sich entscheiden: wird sie die Düsternis bezähmen oder sich von ihr verschlingen lassen und es allen heimzahlen, die ihr je Unrecht taten?
„The Young Elites“ war in vielerlei Hinsicht anders, als ich erwartet hatte. Für einen Young Adult-Roman ist es unheimlich düster und entspricht keinesfalls den gängigen Klischees des Genres. Marie Lu zeigt in ihrem neusten Trilogieauftakt eine völlig andere Facette ihres Könnens und überzeugte mich auf diese Weise ein weiteres Mal von ihrem Talent als Schriftstellerin. Besonders gefiel mir, dass „The Young Elites“ inhaltlich überhaupt nicht mit ihrer vorangegangenen Legend-Trilogie vergleichbar ist. Strukturell finden sich natürlich diverse Gemeinsamkeiten, doch was die Handlung betrifft, liegen Welten zwischen ihnen. Lu entführt ihre LeserInnen in ein Setting, das den malerischen, romantischen Flair des Italiens der Renaissance versprüht. Denkt an Paläste, an Wein, an wunderschöne mediterrane Villen, an fließende Kleider – schon seid ihr mitten in Kenettra. Dieses Land ist nur ein kleiner Teil einer viel größeren Welt, über die ich wohl in den nächsten Bänden mehr erfahren werde. Eines weiß ich jedoch bereits jetzt: in allen Ländern gibt es malfettos; der Unterschied liegt lediglich darin, wie sie behandelt werden. In Kenettra sind sie der Abschaum der Gesellschaft. Gehasst, gemieden, ausgegrenzt. Die Menschen fürchten eben alles, was anders ist und die malfettos sind anders. Das Fieber entstellte viele mit schrecklichen Narben und veränderte ihre Genetik, sodass ihre Haare ungewöhnliche Farben aufweisen. Einige wenige haben darüber hinaus spezielle Gaben, die von Feuer- und Windbeherrschung über das Erschaffen von Illusionen bis hin zur Manipulation von Tieren reichen. Sie sind die Young Elites und verfolgen ganz eigene Pläne hinsichtlich der Zukunft Kenettras. Sie sind keine uneigennützigen SuperheldInnen, die zur Rettung aller malfettos eilen, die ungerecht oder grausam behandelt werden. Mir gefiel diese Darstellung, obwohl die Einstellung der Young Elites der Grund dafür ist, dass die Protagonistin Adelina ihnen niemals völlig vertraut. Adelina ist eine schwierige, nichtsdestotrotz aber extrem interessante Hauptfigur, weil sie ein völlig anderes Kaliber ist als die üblichen Heldinnen des Young Adult-Genres. In den Anmerkungen des Buches schreibt Marie Lu folgendes:
„[…] I didn’t want to tell a hero’s journey; I wanted to tell a villain’s.”
Ich empfinde Adelina zwar nicht als Bösewicht oder Schurkin der Geschichte, doch sie ist definitiv ein düsterer, bedrohlicher und zum Teil sogar beängstigender Charakter. Sie ist kalt, rachsüchtig, hasserfüllt und ambitioniert in einem Maße, das sie über Leichen gehen lässt. Ihre Fähigkeit ist sehr eng mit diesen Eigenschaften verbunden; sie nährt sich von starken Emotionen wie Hass, Furcht, Leidenschaft, Neugierde und Ehrgeiz. Demzufolge basiert ihre Macht auf der Dunkelheit ihres Charakters, weshalb sie eindeutig äußerst gefährlich ist. Ich möchte weder mit ihr befreundet noch mit ihr verfeindet sein, aber ich liebe Marie Lu dafür, dass sie sich entschied, die Geschichte einer Protagonistin zu erzählen, die so gar nichts mit der gutherzigen Rebellin von nebenan zu tun hat. Dadurch bekam einfach alles eine völlig neue Perspektive; sogar die Andeutung einer kleinen Liebesgeschichte erhielt einen finsteren Anstrich. Trotz aller Faszination für Adelina muss ich jedoch zugeben, dass sie mir zeitweise gehörig auf die Nerven ging. Als sie zwischen der Inquisition und den Young Elites steht, ist sie unfähig zu erkennen, wie sie die Situation leicht entschärfen könnte – ich hätte sie gern ein bisschen geschüttelt und ihr gesagt, was sie tun soll. Ihre Unentschlossenheit und Unsicherheit schlug sich meiner Meinung nach auch im Aufbau von „The Young Elites“ nieder; die ersten zwei Drittel empfand ich als eher unspektakulär und recht langsam, doch im letzten Drittel zog Marie Lu das Tempo an und es wurde unheimlich spannend und aufregend, sodass ich das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen konnte.
Ich bin beeindruckt und fasziniert von „The Young Elites“. Ich muss gestehen, eine so düstere Geschichte, die sich intensiv mit den Abgründen der menschlichen Seele beschäftigt, hätte ich Marie Lu niemals zugetraut. Ich sehe so viel Potential in ihr, dass mir quasi der Kopf explodiert, wenn ich all die möglichen Handlungsstränge denke, die Lu aus diesem Trilogieauftakt spinnen könnte. Obwohl ich mit „The Young Elites“ strukturell ähnliche Probleme wie mit „Legend“ hatte, bin ich überzeugt, die Folgebände werden schlicht großartig sein. Tatsächlich kann ich mir sogar vorstellen, dass diese Trilogie als Gesamtwerk die Legend-Trilogie noch weit übertrifft. Danke Marie Lu für den Beweis, dass das Young Adult-Genre doch noch frischen Wind zu bieten hat!