Wortmagieblog

Bücher | Rezensionen | Empfehlungen

Karma is a bitch

— feeling beat brick
A Wayward Angel: The Full Story of the Hells Angels - Vincent Colnett, George Wethern

Seit ich vor Jahren das erste Mal im Zuge meiner Recherchen zu den Hell’s Angels von George Wethern las, fasziniert mich seine Geschichte. Wethern war das erste ehemalige Mitglied der Hell’s Angels, das gegen den Motorradclub als Kronzeuge aussagte. Er wurde zum Verräter – und ich wollte wissen, wieso. Im Rahmen dieser eingeschworenen Männertruppe erschien es mir völlig abwegig, dass er sich dazu überreden ließ, der Polizei gegenüber Interna preiszugeben. Ihm dürfte klargewesen sein, dass er damit sowohl sein als auch das Leben seiner Familie verwirkte. Außerdem war Wethern kein durchschnittliches Mitglied. Ab 1960 war er Vizepräsident des Oakland Charters. Der einzige, der in der Hierarchie über ihm stand, war Ralph »Sonny« Barger persönlich, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband. Warum also entschied sich jemand, der innerhalb der Strukturen des Clubs erfolgreich und mit dem Big Boss unbestreitbar dicke war, zu singen?

 

Ich wusste, dass George Wethern mit der Unterstützung des Journalisten und Schriftstellers Vincent Colnett 1978 eine Autobiografie veröffentlicht hatte. „A Wayward Angel: The Full Story of the Hell‘s Angels“ stand lange auf meiner Wunschliste, erst in der deutschen Variante, später dann im englischen Original. Es dauerte, bis ich eine günstige gebrauchte Ausgabe fand, denn ich war nicht bereit, eine höhere Summe für das Buch zu investieren, weil ich bereits all meine romantischen Illusionen bezüglich des MCs abgelegt hatte. Vielleicht hätte ich es nie gekauft – hätte ich nicht im Februar 2019 „Hell’s Angel: Mein Leben“ gelesen, die kaum ernstzunehmende Autobiografie von Ralph »Sonny« Barger. Barger schreibt darin sehr abfällig über Wethern und geht verdächtig wenig auf seine Freundschaft mit seinem ehemaligen Vize ein. Auf mich wirkte es, als vermeide er dieses unliebsame Kapitel absichtlich, was meiner Neugier neue Nahrung lieferte. Ich wollte es jetzt endlich wissen. Was war damals vorgefallen? Wieso wandte sich George Wethern gegen seinen Club? Ich kaufte „A Wayward Angel“ und beschloss, Wethern selbst zu Wort kommen zu lassen.

 

George Wethern wurde 1939 in Oakland, Kalifornien geboren. Seine Eltern waren beide berufstätig und versuchten, ihm und seinen Geschwistern sowohl eine gute Ausbildung als auch so viele Annehmlichkeiten wie möglich zukommen zu lassen. Er besuchte katholische Schulen, musste niemals hungern und war immer gut gekleidet. Trotzdem war der junge George rastlos und lehnte sich gegen jede Autorität auf, die ihm begegnete. Er genoss seinen Ruf als harter Typ, trieb sich in zweifelhafter Gesellschaft herum und war weit mehr an Mädchen interessiert als an Hausaufgaben. Um ihn von einer jungen Dame namens Judy fernzuhalten, verfrachtete ihn seine Mutter zur Air Force, als er 16 Jahre alt war. Es folgte eine kurze, verfehlte Karriere beim Militär, aus dem er 1958 mit einigen Disziplinarstrafen auf dem Kerbholz unehrenhaft entlassen wurde.

 

Zurück in Oakland traf er die 15-jährige Helen. Vermutlich hätte er damals, mit gerade einmal 19 Jahren, niemals angenommen, dass ihm soeben die große Liebe seines Lebens und spätere Ehefrau begegnet war, mit der er zwei Kinder bekommen sollte.
Im Grunde kehrte Wethern zum selben Alltag zurück, den er für die Air Force hinter sich gelassen hatte. Doch weil er nicht mehr zur Schule ging und zuerst arbeitslos war, langweilte er sich. Er hatte zwei Freunde, Jerry und Junior, die mit einem lokalen Motorradclub herumhingen: den Hell’s Angels. Wethern war fasziniert von der Kameraderie und der taffen Einstellung der Mitglieder. Er besorgte sich eine gebrauchte Harley und stellte sich dem Präsidenten vor, Ralph Hubert Barger, von seinen Freunden »Sonny« genannt. Drei Wochen später wurde Wethern offiziell in den Club aufgenommen. Kurz darauf erfuhr Helen, dass sie schwanger war. George tat das einzige, das Ende der 50er Jahre in so einer Situation als richtig erachtet wurde: er heiratete sie und zog mit ihr in ihre erste gemeinsame, winzige Wohnung.

 

Es war für George Wethern von Anfang an schwer, sein Familienleben und seine Verpflichtungen den Hell’s Angels gegenüber unter einen Hut zu bekommen. Er wollte alles auf einmal; er wollte sowohl ein guter Familienvater sein, der für seine Frau und seine Tochter sorgte, ebenso wollte er aber auch aktiv an der Outlaw-Kultur des Clubs teilnehmen, Partys feiern, lange Motorradfahrten miterleben und sich von niemandem etwas vorschreiben lassen. 1960 wurde er Vizepräsident und seine Tochter Donna wurde geboren. Einige Monate später ordneten sich seine Prioritäten neu, als seine Mutter an Krebs starb. Plötzlich waren ihm die Hell’s Angels nicht mehr so wichtig, lieber wollte er Zeit mit seiner jungen Familie verbringen. Er wollte sein mageres Gehalt bei einer Baufirma nicht länger für die vielen Unkosten ausgeben, die das Clubleben mit sich brachte. Obwohl einige der Angels, besonders Barger, versuchten, ihn davon abzuhalten, hängte er seine Kutte vorübergehend an den Nagel.

 

Fünf Jahre lang trug George Wethern kein Patch. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, weiterhin an den Aktivitäten des MCs teilzunehmen und seine Freundschaften zu den Mitgliedern zu pflegen, als wäre nie etwas geschehen. Obwohl zwischenzeitlich sein Sohn Bobby geboren wurde, war er weit davon entfernt, geläutert zu sein. Sein Wiedereintritt 1966 war rückblickend unvermeidlich. Er hatte nicht mit den Hell’s Angels abgeschlossen. Was ihn letztendlich zurück in die Arme des Clubs trieb, waren allerdings nicht seine engen Beziehungen zu Barger und Konsorten, sondern seine Drogenkarriere.

 

Wethern hatte früh begonnen, Amphetamine zu nehmen, die es damals noch auf Rezept gab. Anfangs sollte ihm die Pillen helfen, seinen Alltag zu meistern, doch schon bald genoss er den Zustand, in den sie ihn versetzten. Er wechselte von Benzedrin zu Speed und Crank und experimentierte mit LSD. Seine ersten Schritte als Dealer machte er mit Marihuana, das er von Sonny Barger kaufte. Einen Teil behielt er für sich, den Rest verkaufte er. Wirklich ins Rollen kam sein Drogengeschäft, als er sich mit dem Angel Terry The Tramp zusammentat. Gemeinsam zogen sie ein Vertriebssystem (hauptsächlich für LSD) auf, das bereits wenige Monate später ernstzunehmende Gewinne abwarf.

 

Es wäre verblendet, anzunehmen, die Hell’s Angels hätten nicht gewusst, welche Möglichkeiten sich ihnen dank Wethern boten. Hunter S. Thompson irrte sich, als er behauptete, der Club sei zu chaotisch und undiszipliniert, um im Drogengeschäft Fuß zu fassen. Sobald der MC begriff, dass Wethern nicht nur mit Centbeträgen herumeierte, drängten ihn die Mitglieder, wiedereinzutreten. Wethern selbst betrachtete den Club als Garant für sichere und lukrative Geschäfte. Im Frühjahr 1966 wurde er einstimmig wiederaufgenommen, ohne das langwierige Verfahren, das normalerweise dafür nötig ist.

 

In den folgenden Jahren mauserte sich George Wethern innerhalb kürzester Zeit zu einem der Dirigenten eines der größten Drogensysteme im Westen der USA. Obwohl er weiterhin selbst in rauen Mengen konsumierte, badete er im Geld und verdiente zwischen $100.000 und $200.000 jährlich. Sein hoher IQ, der schon in der High-School festgestellt wurde, befähigte ihn, sogar im Vollrausch stets den Überblick zu behalten. Er verschaffte den Hell’s Angels eine solide Reputation als verlässliche Drogendealer, die immer zu akzeptablen Preisen lieferten, solange niemand versuchte, sie über den Tisch zu ziehen. Dennoch liefen nicht alle Fäden bei ihm zusammen, weil sich das Geschäft rasch ausweitete und auch Drogen abdeckte, von denen Wethern eher Abstand nahm, zum Beispiel Heroin. Die verschwiegenen Strukturen des MCs eigneten sich hervorragend, um ein Unternehmen im großen Stil zu organisieren, gegen das Ordnungsinstanzen wie die Polizei oder die Staatsanwaltschaft keine Handhabe hatten. Jedes Mitglied, das in das Geschäft einsteigen wollte, konnte es. Es kristallisierte sich eine Hierarchie heraus und wer Verbindungen hatte, stieg schnell auf. Die Hell’s Angels entwickelten sich zu einem Drogenkartell, das zusätzlich mit Waffen und Explosivstoffen handelte. George Wethern stand in der ersten Reihe.

 

Ende der 60er Jahre war George Wethern demzufolge stärker denn je in das Clubleben eingebunden. Er war ein Schwergewicht in der Hackordnung des MCs. Dies änderte sich jedoch abrupt, als er während einer drogeninduzierten Psychose gegen den Kodex der Hell’s Angels verstieß. Im Januar 1969 schoss Wethern im PCP-Rausch (Angel Dust) auf seinen Freund und Geschäftspartner Zorro. Die Ärzte stellten siebzehn Ein- und Austrittswunden fest. Obwohl Zorro seine Verletzungen überlebte, sie ihre Freundschaft später kitten konnten und er George durch seine Weigerung, Anzeige zu erstatten, vor einer langen Haftstrafe bewahrte, war der Schaden angerichtet. Wethern hatte ein Gesetz des MCs gebrochen: er hatte einen Kameraden lebensbedrohlich verletzt. Die Hell’s Angels betrachteten ihn als Risiko. Einige Mitglieder hatten Angst vor ihm, andere forderten seinen Tod für das, was er Zorro angetan hatte. Sie mieden ihn und behandelten ihn wie eine tickende Zeitbombe. Von Sonny Barger und anderen hochrangigen Angels erhielt er zwar Rückendeckung, aber die Anerkennung und der Respekt, die er zuvor genossen hatte, hatten sich in Misstrauen und Feindseligkeit verwandelt. Wethern litt sehr unter der Verschiebung seines Status. Er fühlte sich machtlos. Es schien, als könne er seinen Ruf unter seinen Brüdern nicht wiederherstellen, egal, was er tat. Er beschloss, es nicht länger zu versuchen. Im Sommer 1969 gab er seinen Austritt bekannt.

 

Theoretisch konnte damals jedes Mitglied die Hell’s Angels ohne großes Aufsehen verlassen. Heute sieht das vermutlich anders aus, doch Ende der 60er reichten private Gründe aus, um die Mitgliedschaft zu beenden. Praktisch war es allerdings etwas komplizierter. Der Ruhestand war für einen ehemaligen Angel nur dann möglich, wenn es ihm gelang, alle Verbindungen zum Club restlos aufzulösen. Eine Herausforderung, denn für die meisten war der Club ihr Lebensinhalt und das Zentrum ihrer geschäftlichen und privaten Beziehungen. Ein Austritt bedeutete einen radikalen Neuanfang, der dadurch erschwert wurde, dass ein Mitglied im Ruhestand dem MC noch immer verpflichtet war. Aktive Mitglieder konnten von einem Ruheständler alles verlangen, von einem Schlafplatz bis zu einer Waffenlieferung. Der Ruheständler konnte nicht ablehnen; er konnte sich nicht mit einem aktiven Mitglied anlegen, weil das Machtverhältnis immer zugunsten des Aktiven ausfiel. Der einzige Weg, all das zu vermeiden, war, weit weg zu ziehen. Wer diese Option wählte, verzichtete jedoch auf die vielen Vorteile, die der Ruhestand mit sich bringen konnte. Obwohl ein ehemaliges Mitglied keinerlei Ansprüche mehr stellen durfte, kam es vor, dass aktive Mitglieder ihren Einfluss nutzten, um sicherzustellen, dass der Ruheständler Hilfe bekam, wenn er sie benötigte. Diese konnte beispielsweise finanzieller oder rechtlicher Natur sein. George Wethern entschied sich gegen einen Umzug. Er brachte es nicht über sich, all seine Freundschaften und vor allem seine enge Beziehung zu Sonny Barger aufzugeben. Rückblickend ein fataler Fehler.

 

1968 hatte George Wethern ein Grundstück nördlich von San Francisco gekauft, auf dem er für seine Familie eine Ranch bauen wollte. Als er die Hell’s Angels verließ, waren die Bauarbeiten bereits in vollem Gange. Sonny Barger wusste von dem Grundstück, weil er zur Hälfte Teilhaber war. Im Frühjahr 1970 rief er Wethern an und bat ihn, auf dem Gelände der Ranch die Leiche einer jungen Frau verschwinden lassen zu dürfen, die auf einer der Partys der Hell’s Angels Selbstmord begangenen hatte. Wethern sagte zu. Er schuldete Sonny viel und sah es als Gelegenheit, sich für Jahre der Loyalität zu revanchieren. Dennoch beunruhigte ihn die Leiche, die auf seinem Grund und Boden vergraben lag. Vielleicht ahnte er, dass er einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen hatte. Die Verpflichtungen des Ruhestands zwangen ihn, sein Grundstück ein Jahr später, im Frühling 1971, erneut zur Verfügung zu stellen. Dieses Mal waren es die Leichen zweier Prospects (Anwerber auf die Mitgliedschaft), die verschwinden mussten. Im Gegensatz zu der jungen Frau, die sich laut Sonny selbst getötet hatte, waren diese beiden die Opfer einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Party des Richmond Charters der Hell’s Angels. Sie wurden ermordet. Trotz des furchtbaren Geheimnisses, das er nun bewahrte, bemühte sich George Wethern nach Kräften, das Leben seiner Familie weiterzuführen wie bisher und hoffte, dass die Toten einfach irgendwann vergessen sein würden. Seine Hoffnung erfüllte sich nicht.

 

Am Montag, dem 30. Oktober 1972, vollstreckten Polizeibeamte einen Durchsuchungsbeschluss für George Wetherns Ranch. Ironischerweise wäre es dazu eventuell nicht gekommen, hätte das Charter der Hell’s Angels in Oakland nicht versucht, »Whispering Bill« Pifer zu töten, der in Richmond bei der Ermordung der Prospects anwesend war. Sie glaubten, er sei nicht vertrauenswürdig. Nach einer missglückten Falle, die für Pifer eigentlich tödlich enden sollte, fürchtete dieser, dass sie es wieder versuchen würden und auch seine Familie verletzen könnten. 1972 ging er zur Polizei, weil er sich lieber in die Hände der Ordnungshüter begab und ihren Schutz erbat, als auf die Gnade seiner Brüder zu bauen. Offenbar nahmen ihn die ersten beiden Beamten, denen er von den getöteten Prospects berichtete, nicht ernst. Wochenlang geschah nichts. Dann traf er jedoch zufällig Sergeant Frank Tiscareno, Bruder eines Freundes und Polizist aus Pittsburgh. Zuerst erzählte er Tiscareno nichts. Doch eine Woche später hatte er scheinbar beschlossen, dass dieser der richtige Mann war und lud ihn zu sich ein. Er erzählte ihm alles. Anders als seine Kollegen nahm ihn Tiscareno sehr wohl ernst und leitete sofort eine Untersuchung basierend auf Pifers Behauptungen ein. Wenig später fuhr Pifer mit der Polizei zu George Wetherns Grundstück und identifizierte die Ranch als den Ort, an dem die Leichen der Prospects begraben waren.

 

Um 6 Uhr morgens bezogen etwa 36 Polizeibeamte ihre Posten vor der Ranch. Beim ersten Anzeichen von Bewegung im Haus forderten sie die Familie mit einem Megafon auf, herauszukommen. George Wethern leistete keinen Widerstand. Da während seiner Befragung deutlich wurde, dass die Polizisten ohnehin von den Leichen auf seinem Grundstück wussten, kooperierte er bereitwillig und zeigte ihnen ihre Gräber. Er wollte unbedingt vermeiden, dass die Autoritäten ihm die Morde anlasteten. Die detaillierten Fragen der Beamten ließen für ihn nur einen Schluss zu: er war verraten worden, von seinen Brüdern, seinem Club, dem er Jahre seines Lebens, sein Blut und all seine Leidenschaft gewidmet hatte.

 

Wethern wusste, dass seine Zusammenarbeit mit der Polizei Konsequenzen haben würde. Er hatte den Kodex gebrochen. Erneut. Die Hell’s Angels würden versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen, entweder, indem sie seine Familie bedrohten oder indem sie ihn selbst umbrachten. Gefängnismauern waren kein Hindernis. Helen weinte bitterlich, als er ihr erzählte, was er getan hatte, denn auch sie wusste, dass er ein toter Mann war. Nach einem Tag in Haft traf das Ehepaar Wethern den Pflichtverteidiger Richard Petersen. Er überzeugte sie davon, dass ihre einzige Option ein Immunitätsdeal war, der ihnen im Austausch für Informationen Schutz vor dem MC zusicherte. Sie willigten ein. Einige Tage wurden die Details verhandelt, doch am Wochenende stand der Deal. George und Helen Wethern bekannten sich in minderen Delikten schuldig, die auf der Ranch konfiszierte Waffen und Drogen betrafen, erhielten jedoch Immunität für alle weiteren Verbrechen. Die Regierung erklärte sich bereit, die gesamte Familie Wethern an einen Ort ihrer Wahl auf dem Bundesgebiet der USA umzusiedeln, inklusive neuer Namen, neuer Papiere, Unterkunftsgarantie, Unterhaltszahlungen und allen notwendigen Veränderungen ihrer äußerlichen Erscheinungen. Im Gegenzug würden die Wetherns den Autoritäten ihre Erinnerungen an 14 Jahre im Dunstkreis der Hell’s Angels zur Verfügung stellen.

 

Sie beantworteten hunderte Fragen. George Wethern nahm seine Seite des Deals sehr ernst. Tag ein, Tag aus zermarterte er sich das Hirn, um den Beamten verschiedenster Instanzen zufriedenstellende Antworten geben zu können. Trotz dessen fiel es ihm nicht leicht, all das zu verraten, wofür er mehr als ein Jahrzehnt eingestanden hatte. Er bereute zutiefst, alte Freunde und Brüder ans Messer liefern zu müssen und bedauerte, zu welchem Leben er seine Familie verdammte. Von zermürbender Schuld und Verzweiflung getrieben versuchte er eines Tages sogar, sich selbst und Helen zu töten. Glücklicherweise gelang ihm das nicht und kurz darauf erwachte sein Überlebenswille erneut. Nach dem Zwischenfall, der sie beide beinahe in ein frühes Grab gebracht hätte, wurden George und Helen in getrennten Zellen untergebracht. Als Ersatz für persönlichen Kontakt begannen sie, sich täglich bis zu 10 Briefe zu schreiben, die von allen möglichen Offiziellen überbracht wurden. Darin sprachen sie sich gegenseitig Mut zu und beteuerten ihre Liebe für einander und ihre Familie. So überstanden sie die Zeit in Haft, bis sie Anfang Januar 1973 von Bundesbeamten abgeholt und in ihr neues Leben gefahren wurden.

 

George Wethern, seine Frau Helen und ihre beiden Kinder Donna und Bobby befinden sich seit 1973 im Zeugenschutz. Ihre wahren Identitäten sind ein gut gehütetes Geheimnis, das ausschließlich denjenigen bekannt ist, die (vielleicht bis heute) für ihre Sicherheit sorgen. Inwieweit Vincent Colnett über ihren Aufenthaltsort Bescheid wusste, als er die Wetherns Ende der 70er dabei unterstützte, Georges Autobiografie „A Wayward Angel“ zu verfassen, ist unklar. Möglicherweise haben sie sich nie getroffen. Das Buch sollte der entwurzelten Familie helfen, in ihrem neuen Leben Fuß zu fassen. Neben der dringend benötigten Finanzspritze hofften sie darauf, mit vielen Vorurteilen über die Hell’s Angels aufräumen und ein abschreckendes Beispiel der zerstörerischen Gefahren des Drogenkonsums sein zu können. Seit das Buch 1978 erschien, sind sie meines Wissens nach von der öffentlichen Bildfläche verschwunden. Ich werte das als gutes Zeichen, das darauf hinweist, dass sie nie von den Hell’s Angels gefunden wurden. George wäre heute 81 Jahre alt. Er könnte noch leben.

 

Uff. Bestimmt habt ihr es schon gemerkt. Es ist mal wieder eine dieser Rezensionen. Non-Fiction zu besprechen, ist für mich immer eine Herausforderung, weil ich mir während des Schreibens permanent die Frage stellen muss, wie viel Kontextwissen ich anbieten kann und muss. Es ist ein Balanceakt zwischen Verständnislücken und Spoilern. Ich habe mich entschieden, in diesem Text zu „A Wayward Angel“ vergleichsweise ausführlich auf das Leben von George Wethern einzugehen, weil ich sichergehen möchte, dass ihr begreift, was für ein Mann er war, als er Mitglied der Hell’s Angels war, sowohl aktiv als auch im Ruhestand. Ich will, dass ihr versteht, dass seine Geschichte wesentlich komplizierter ist, als sie auf den ersten Blick wirkt, damit ihr meine Beurteilung dieses Buches besser einordnen könnt. Also verzeiht mir die lange Zusammenfassung seiner Autobiografie, wie immer versichere ich euch, ich verfolge damit einen bestimmten Zweck.

 

Ich fand „A Wayward Angel” von George Wethern um Längen besser und hilfreicher als „Hell’s Angel: Mein Leben“ von Ralph »Sonny« Barger. Es ist offener, intimer und glaubwürdiger als die chaotische, unpersönliche Anekdotensammlung, die Barger präsentiert. Natürlich liegt das an ihren unterschiedlichen Ausgangssituationen: als Barger sein Manifest verfasste, war er ein aktives Mitglied der Hell’s Angels; George Wethern hingegen war bereits sechs Jahre zuvor offiziell zum Verräter geworden und hatte nichts mehr zu verlieren. Es gab für ihn keinen Grund zur Zurückhaltung, er konnte Interna preisgeben, ohne die Vergeltung des Clubs fürchten zu müssen. Das einzige Risiko, das er einging, war, sich erneut ins Gedächtnis zu bringen und dadurch sein Leben im Zeugenschutz zu gefährden. Da ich jedoch nicht weiß, wie seine Zusammenarbeit mit Vincent Colnett aussah, kann ich nicht einschätzen, wie hoch dieses Risiko tatsächlich war. Ich lernte George Wethern als Mann kennen, der zur Paranoia tendiert, daher gehe ich davon aus, dass er mehrere Sicherheitsnetze spannte, um dieses Buch gefahrlos veröffentlichen zu können.

 

George Wethern ist kein geborener Schriftsteller. Seine Autobiografie ist kein brillantes Meisterwerk schriftstellerischer Finesse. Teilweise verwirrte mich die Lektüre, weil das Buch über eine sehr grobe Chronologie verfügt und nicht immer eindeutig ist, in welchem zeitlichen Rahmen Wetherns Ausführungen verankert sind. Das fiel mir besonders bei der Rekapitulation für diese Rezension auf, denn ich hatte oft Schwierigkeiten, Ereignisse mit konkreten Jahreszahlen zu verbinden, abgesehen von den wichtigsten Eckdaten. Erschwert wurde es dadurch, dass „A Wayward Angel“ gar nicht den Anspruch verfolgt, eine schnurgerade, chronologische Auflistung der Lebensstationen des ehemaligen Vizepräsidenten anzubieten. Wethern weicht oft vom roten Faden seiner Biografie ab, um Informationen zu den internen Entwicklungen, Strukturen, Abläufen und Regeln der Hell’s Angels zu integrieren, Anekdoten zum Besten zu geben und seine persönliche Einschätzung verschiedener Mitglieder zu vermitteln. Es war fordernd, daraus den Kern seines Werdegangs herauszufiltern. Außerdem gefiel es mir nicht, dass die Abgrenzung zwischen Erinnerungen und recherchierten Fakten sehr schwammig gestaltet ist. Es ist schwer nachzuvollziehen, wann Vincent Colnett eingriff, um Georges Erzählungen mit dokumentierten Quellen zu untermauern. Ich gehe davon aus, dass alle Fußnoten von Colnett stammen, allerdings befinden sich diese ganz am Ende des Buches, was meine Leseerfahrung durchgängig negativ beeinflusste. Ich möchte eben nicht jedes Mal nach hinten blättern müssen, um Belege nachzulesen.

 

Übelnehmen kann ich George Wethern diese Mängel jedoch nicht. Er ist kein Schriftsteller. Er ist ein ehemaliger Biker, der seine Erfahrungen niederschrieb, um seine Leser_innen vor dem Lebensstil, den er führte, zu warnen und ihre Neugier zu befriedigen. Es wäre nicht fair, ihn nach denselben Maßstäben zu bewerten, die ich normalerweise anlege. Darüber hinaus schätze ich zwei Eigenschaften von „A Wayward Angel“ ungemein, weshalb es mir leichtfällt, nachsichtig zu sein: es ist ehrlich und authentisch. Das ist mir mehr wert als poetische Sprachblumen.

 

Dank Wethern glaube ich, wirklich begriffen zu haben, was es bedeutete, in den frühen Jahren des Clubs ein Mitglied der Hell’s Angels zu sein. Er zeigte mir, wie aus dem Haufen unrasierter, freiheitsliebender und autoritätsablehnender junger Männer, die gern Motorrad fuhren und vor allem Spaß haben wollten, ein hochorganisiertes, kriminelles Unternehmen wurde. Mein ursprüngliches Bild der Hell’s Angels kam nicht von ungefähr. Anfangs waren sie tatsächlich diese sympathische Gruppe moderner Barbaren, in der ich mich wiedererkannte. Erst später entwickelten sie sich zu einem Kartell, das überhaupt keine Regeln außer seinen eigenen akzeptiert. Ich habe lange über das Warum gegrübelt und kam zu dem Schluss, dass es keine einfache Antwort gibt. Die Veränderung des MCs fand graduell statt und wurde meiner Ansicht nach stark von den Persönlichkeiten geprägt, die damals den Ton angaben. Sie formten den Club nach ihren individuellen Ideen und Bedürfnissen. George Wethern beispielsweise stieg ins Drogengeschäft ein, weil er einerseits durch seinen eigenen Konsum ohnehin in Kontakt mit der Drogenszene stand und andererseits stetig Geld brauchte. Seine Anstellung im Baugewerbe befriedigte ihn nicht, er verdiente mit sehr harter Arbeit einen Bruchteil dessen, was ihm ein profitabler, bequemer Deal einbrachte. Er sah die Strukturen des Drogenhandels und durchschaute, wie man sie professionalisieren konnte. Es war naheliegend, dass er sich dafür das bereits vorhandene Netzwerk des Clubs zu Nutze machte.

 

So oder so ähnlich lief es vermutlich in den meisten Bereichen ab. Ein Mitglied trug ein kleines, privates Projekt in den Club, das dann schnell im großen Rahmen adaptiert wurde. Möglichkeit und Gelegenheit. Die Tatsache, dass es sich dabei offenbar grundsätzlich um illegale Güter und Dienstleistungen handelte, lässt sich durch einen Blick in die Biografien der Mitglieder erklären. Viele von ihnen waren von der Gesellschaft enttäuscht. Sie nahmen sich als Außenseiter wahr, die sich von der Gesellschaft im Stich gelassen oder gezielt ausgegrenzt fühlten, wodurch sie eben jener Gesellschaft keinen Respekt entgegenbrachten und kein Problem damit hatten, ihre Gesetze zu brechen. Dieses Selbstverständnis als ungeliebte Rebellen war ein verbindendes Element der Hell’s Angels und ihre Motivation, Unternehmungen zu realisieren, vor denen der normale Bürger zurückschreckte. Der Wunsch nach einer Bruderschaft, die Sehnsucht nach einer Familie einte sie.

 

Vielleicht war das der Grund, warum George Wetherns Mitgliedschaft bei den Hell’s Angels von Beginn an mit Konflikten behaftet war. Er hatte immer eine Familie. Zuerst in Person seiner Eltern und seiner Geschwister, durch die er ein bescheidenes, aber abgesichertes Leben führte. Es überraschte mich, dass er nicht aus zerrütteten Verhältnissen stammte. Sein Vater war Alkoholiker, doch er scheint das gewesen zu sein, was man heute einen funktionalen Alkoholiker nennt – jemand, der regelmäßig trinkt und trotzdem allen Pflichten nachkommt. Wethern beschreibt keine Gewalt in seinem Elternhaus; auf mich wirkte es, als seien seine Eltern streng, auf ihre Art aber durchaus liebevoll gewesen. Er geht nicht darauf ein, wieso in ihm früh das Bedürfnis zur Rebellion erwachte. Wahrscheinlich weiß er selbst nicht, woher diese Tendenz rührte, denn ich bezweifle, dass er sich jemals einer tiefenpsychologischen Analyse unterzog. Er stellt es dar, als sei er einfach das schwarze Schaf der Familie gewesen, das grundlos immer wieder aneckte.

 

Ich vermute, dass sein Verhalten anfangs das Ergebnis einer Mischung aus seinem hohen IQ und den ganz normalen Widerständen eines Teenagers war. Die Schule unterforderte und langweilte ihn, also stellte er Blödsinn an. Ich denke, das Schlüsselereignis, das ihn letztendlich auf die schiefe Bahn brachte, war die Entscheidung seiner Mutter, ihn zur Air Force zu schicken. Schon als ich davon las, fand ich diesen Schritt extrem und radikal. Es muss ihn verletzt haben, dass sie ihn mehr oder weniger vor die Tür setzte, denn ich glaube, dass er seine Mutter sehr geliebt hat, was er zwar nie ausdrücklich sagt, zwischen den Zeilen aber recht deutlich erkennbar ist. Schließlich war ihr Tod der Grund für seinen ersten Austritt aus den Hell’s Angels. Dass seine Militärkarriere vor diesem Hintergrund scheiterte, wundert mich überhaupt nicht. Zurück in Oakland stand er vor den Scherben seines noch jungen Lebens: kein Schulabschluss, unehrenhaft aus der Air Force entlassen, keine Ausbildung, kein Job, kein Geld. Das einzige, was er hatte, war sein Ruf. Er war ein bisschen verloren, ziellos. Aus dieser Situation heraus hatte er seine ersten Berührungspunkte mit den Hell’s Angels, harte Jungs mit ähnlich schwierigen Biografien wie er, die nirgendwo richtig dazugehörten und wütend auf die Welt waren, die sie nicht haben wollte. Ich kann verstehen, dass George Wethern unter ihnen das Gefühl hatte, willkommen zu sein. Möglicherweise nutzte er seine Mitgliedschaft darüber hinaus als Provokation, denn seine Mutter hielt von den Rüpeln, mit denen er sich rumtrieb, nicht das Geringste. Einmal jagte sie sie sogar mit dem Besen aus ihrem Haus. Taff, die Gute.

 

Es ist ein weitverbreitetes Klischee, dass alle Probleme erwachsener Menschen auf Traumata aus der Kindheit zurückzuführen sind. In George Wetherns Fall glaube ich, dass dieses Klischee zutrifft. Ich denke, dass der Knacks im Verhältnis zu seiner Mutter der zugrundeliegende Auslöser dafür war, dass er sich den Hell’s Angels anschloss. Hätte sie ihn nicht zur Air Force verfrachtet und stattdessen versucht, mit ihrem rebellischen, intelligenten Teenager selbst fertigzuwerden, hätte er vielleicht keinen gescheiterten Lebenslauf begonnen und wäre nicht in eine Situation geraten, in der er die Hell’s Angels als seine neue Heimat begrüßte. Bitte versteht mich nicht falsch: ich formuliere hier keine Schuldzuweisungen, ich betreibe Ursachenforschung, denn es war garantiert nicht die Liebe zu Motorrädern, die George Wethern überzeugte, ein Hell’s Angel zu werden. Er fuhr gerne, das will ich nicht bestreiten. Aber soweit ich weiß, kaufte er seine erste Harley nicht aus eigenem Antrieb, sondern gezielt mit der Absicht, sich dem Club vorzustellen und auch später entwickelte er nie die Leidenschaft für die Maschinen, die beispielsweise Ralph »Sonny« Barger bis heute auszeichnet. Wethern konnte sein Bike nie selbst reparieren und erledigte seine alltäglichen Termine lieber mit dem Auto. Er fand bei den Hell’s Angels, was er suchte – mit Motorrädern hatte das allerdings erstaunlich wenig zu tun.

 

Obwohl der emotionale Bruch mit seiner Familie den idealen Nährboden für seine Karriere bei den Hell’s Angels darstellte, taten sich nach seiner Aufnahme in den Club neue Konflikte auf, die er niemals lösen konnte. Der Grund dafür hat einen Namen: Helen. George Wethern lernte seine Ehefrau kurz vor seinem Eintritt kennen und gründete wenig später (unbeabsichtigt) seine eigene Familie mit ihr. Helen war 16 Jahre alt, als sie mit Donna schwanger war. Sie war ein Teenager und vollkommen von ihrem umtriebigen Ehemann abhängig, denn sie hatte keine Ausbildung und keinen Beruf. Wethern wusste, dass es falsch war, seine jugendliche, schwangere Ehefrau allein in ihrer Wohnung sitzen zu lassen, während er mit dem MC um die Häuser zog. Er wusste auch, dass Helen den Club dafür hasste, dass dieser ihr den Vater ihrer Tochter entzog, lange bevor seine kriminellen Geschäfte ein Thema wurden. Helen wurde zwar ebenso in die Reihen des Clubs aufgenommen wie George (soweit das für eine Frau eben möglich ist) und schloss Freundschaften mit anderen Old Ladys (Ehefrauen und feste Freundinnen) und einigen Angels, aber sie hieß die Mitgliedschaft ihres Mannes niemals gut. Nicht einmal, als sie selbst begann, Drogen zu nehmen, um George näher zu sein. Sie hatte immer das Gefühl, dass der MC ihn ausnutzte und verabscheute die horrenden Forderungen, die dieser an seine Zeit, sein Geld und seinen Lebensstil stellte. Sie versuchte stetig, ihn davon zu überzeugen, die Hell’s Angels zu verlassen. Leider hatte sie damit nie Erfolg.

 

George Wethern befand sich zwischen den Stühlen. Er war der Mittelpunkt des Tauziehens seiner beiden Familien, die um seine Präsenz buhlten: auf der einen Seite standen Helen und seine Kinder, auf der anderen Seite der MC. Er war hin- und hergerissen und konnte sich deshalb niemals endgültig für eine Partei entscheiden, was wiederum dazu führte, dass er sich nie vollständig und mit aller Konsequenz auf das einließ, was er tat. Selbst im Trubel seiner Spitzenzeiten als Drogenhändler verpasste er Clubtreffen und zahlte das dafür fällige Bußgeld, um bei Helen und den Kindern sein zu können. Mir schien es, als schlügen zwei Herzen in seiner Brust, die gegensätzliche Dinge begehrten. Der verantwortungsbewusste Familienvater, der sich nichts sehnlicher wünschte als ein friedliches, bürgerliches Leben, kollidierte mit dem Drogenkönig des berüchtigten Motorradclubs, der sich weigerte, erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Er übte sich im Spagat, eine Belastung, die er wahrscheinlich nicht mal ausgehalten hätte, wäre er clean gewesen. Seine Sucht verschärfte seine Lage zusätzlich, weil er die Realität nicht mehr objektiv beurteilen konnte. Dass er in einem Anfall psychotischer Paranoia auf seinen Partner losging, muss man meiner Ansicht nach als Glücksfall werten. So leid es mir für Zorro tut, es hätte auch viel schlimmer kommen können. Es hätte auch seine Kinder treffen können.

 

Ich bin mir nicht sicher, inwieweit Wethern sich darüber im Klaren war, dass er seine Kinder und Helen Tag für Tag durch seine Nähe zu den Hell’s Angels und seine Drogengeschäfte in Gefahr brachte. Auf mich wirkte es, als wollte er die Risiken einfach nicht sehen, als wollte er sich nicht eingestehen, dass sie jeder Zeit als Druckmittel zur Zielscheibe hätten werden können. Ich glaube, er wollte sich einreden, dass sie sicher waren, was natürlich ein Trugschluss war. So mächtig er sich damals fühlte, er war nicht unantastbar. Ein Streit im MC, ein schiefgelaufener Deal, ein ambitionierter Konkurrent – eine dieser Möglichkeiten hätte ausgereicht, um Helens Leben und die Leben seiner Kinder ernsthaft zu bedrohen. Meiner Meinung nach unterschätzte er vor allem, was seine Brüder zu tun bereit waren, um ihre pervertierte Form von Gerechtigkeit durchzusetzen, obwohl er selbst miterlebte, wie der Club tiefer und tiefer in eine Spirale der Gewalt abrutschte. Er hielt es für undenkbar, dass er ihr Opfer werden könnte. Deshalb denke ich, dass er 1969 gerade noch rechtzeitig ausstieg, wenn auch unfreiwillig. Die Ereignisse, die sich nach seinem Austritt abspielten und ihm drei Leichen auf seinem Grundstück bescherten, beweisen mir, dass George Wethern die allerletzte Ausfahrt nahm, bevor es clubintern richtig haarig wurde. Ich möchte mir nicht ausmalen, was geschehen wäre, wäre er ein aktives Mitglied geblieben.

 

Außerdem beschlich mich der Eindruck, dass er es genoss, bis zu einem gewissen Grad von den ständigen Verpflichtungen den Hell’s Angels gegenüber befreit zu sein. So wenig sich sein Lebensstil durch seinen Austritt änderte, ich hatte trotzdem das Gefühl, dass er keine Lust mehr hatte, in den Mist hineingezogen zu werden, den die aktiven Mitglieder verzapften. Ich kann das durchaus verstehen. Sie wollten ihn nicht mehr in ihren Reihen, aber um hinter ihnen aufzuräumen, war er gut genug. Freundschaft und Treue hin oder her, niemand möchte plötzlich für drei Leichen verantwortlich sein. Daher kann ich auch nachvollziehen, dass er nicht bereit war, für drei Morde, die er nicht begangen hatte, im Namen eines Clubs, der ihn nicht länger akzeptierte, ins Gefängnis zu wandern. Seine Annahme, ein Bruder hätte ihn verraten, war korrekt und ich gehe davon aus, dass er sich dadurch nicht mehr an das Credo der Verschwiegenheit gebunden sah. Es spielte keine Rolle, dass es jemand war, den er vermutlich nicht mal persönlich kannte. Eine der bedeutendsten, identitätsstiftenden Regeln der Hell’s Angels war gebrochen worden, eines der Gesetze, die das Selbstverständnis des Clubs bestimmen. Es muss sich angefühlt haben, als sei alles, was Wethern länger als ein Jahrzehnt verteidigte, obsolet.

 

Ich frage mich, ob George Wethern sich rückblickend mehr darüber ärgerte, dass er alles verlor, weil sein ehemaliges Charter »Whispering Bill« Pifer in eine Ecke trieb, in der ihm keine andere Wahl blieb, als sich an die Polizei zu wenden oder ob sich sein Zorn auf »Whispering Bill« Pifer selbst richtete, der das Geheimnis der ermordeten Prospects ausplauderte. Vielleicht verfluchte er das gesamte Richmond Charter, weil dessen Mitglieder es erst versäumten, den Verlauf ihrer Party zu kontrollieren und dann nicht einmal fähig waren, sich selbst um die Leichen zu kümmern. Möglicherweise empfand er aber auch gar keine Wut, sondern nur Erleichterung, vergleichsweise glimpflich davongekommen zu sein. Ich denke jedoch, dass Jahre vergingen, bis er in der Lage war, zu erkennen, dass Pifer wahrscheinlich das Beste war, was seiner Familie passieren konnte. Von allein wäre er dem Einfluss der Hell’s Angels niemals entkommen, davon bin ich fest überzeugt. Das Zeugenschutzprogramm ist sicher kein Zuckerschlecken und es war bestimmt nicht einfach, noch einmal ganz von vorn anzufangen und sich ein Leben aufzubauen, das auf (notwendigen) Lügen basiert, aber ohne diesen radikalen Bruch hätte er es nicht geschafft, sich zu distanzieren. Ich kann mir sogar vorstellen, dass er irgendwann wieder eingetreten wäre. Darüber hinaus befürchte ich, dass weder Helen noch George in der Nähe des MCs jemals clean geworden wären. Drogen gehörten zu ihrem Alltag so selbstverständlich dazu, dass es ihnen nicht eingefallen wäre, einen Entzug zu machen. Meinem Empfinden nach waren ihre Verbindungen zu den Hell’s Angels ganz entscheidend von Substanzmissbrauch geprägt – das eine ohne das andere war einfach nicht denkbar. Um aufzuhören, mussten sie aus der Peripherie des Clubs ein für alle Mal verschwinden.

 

Meiner Ansicht nach wurde George Wethern von den Hell’s Angels unfair behandelt. Nach allem, was er für den Club getan, aufgegeben und riskiert hatte, blickte er einer möglichen Hinrichtung entgegen, weil er versuchte, seine Familie vor den Folgen eines Geheimnisbruchs zu schützen, der nicht ihm angelastet werden kann. Mir ist klar, dass es für den berüchtigten Motorradclub diesbezüglich wahrscheinlich keine Grauzonen gibt. Sie hätten ihn, seine Frau und/oder seine Kinder schon aus Prinzip umgebracht. Wer redet, bekommt die Konsequenzen zu spüren, Punkt. Ich finde jedoch, dass sie sich Wetherns Redseligkeit selbst einbrockten. Erst, indem sie ihn wie einen Aussätzigen behandelten, was das Vertrauen des ehemaligen Vize in die hochgerühmte Bruderschaft des Clubs drastisch erschüttert haben dürfte; dann durch die Anhäufung schwerwiegender Verbrechen, die Anfang der 70er Jahre zu einem erhöhten Interesse der Strafverfolgung führte und schlussendlich durch die fatale Fehleinschätzung, wie mit »Whispering Bill« Pifer umgegangen werden sollte. Sie nutzten seine weiterhin bestehende Loyalität aus und brachten ihn in eine Situation, in der er zwischen seiner Familie und dem MC wählen musste. Nach all den Jahren des Tauziehens traf er endlich die richtige Entscheidung, die eigentlich jeder Mensch nachempfinden können sollte. Dafür getötet zu werden, ist himmelschreiend ungerecht.

 

Bei aller Sympathie, die ich für George Wethern verspüre, weil er mir sehr intime, ehrliche und eindringliche Einblicke in eine Welt gewährte, um die sich viele Mythen ranken, möchte ich dennoch eines festhalten: er ist kein Opfer. Er war es nie. Er war ein Täter. Mitleid wäre fehlgeleitet. Alles, was ihm widerfahren ist, kann und muss darauf zurückgeführt werden, dass er ein Hell’s Angel war. Er wirkte aktiv daran mit, dass sich der Club zu dem kriminellen Kartell entwickelte, das er noch heute ist. 1978, als „A Wayward Angel“ erschien, konnte Wethern nicht absehen, welche Weichen er damals gestellt hatte. Aber er hat sie gestellt, daran gibt es nichts zu rütteln. Er trägt eine Mitschuld daran, dass die Hell’s Angels Jahrzehnte später weltweit für Drogen-, Waffen- und Menschenhandel stehen, für Hinrichtungen auf offener Straße, für Prostitution. Er hatte Einfluss und formte die Identität des MCs ebenso wie Ralph »Sonny« Barger. Es ist zu leicht, während der Lektüre seiner Autobiografie zu vergessen, dass all seine Taten echte Menschen berührten, verletzten und ruinierten. Seine Lebensgeschichte ist nicht abstrakt. Seine Mitgliedschaft bei den Hell’s Angels war kein Spiel. Obwohl er als vergleichsweise „harmloser“ Angel durchging, weil er keine Morde beging, sollte niemand unterschätzen, wie viel Leid er allein durch seine weitreichenden Drogengeschäfte verursachte, für die er niemals offiziell zur Rechenschaft gezogen wurde.

 

Nun könnte man argumentieren, dass Drogenkonsum in den 60er und 70er Jahren anders betrachtet wurde als heute, besonders in der Hippie-Bewegung beinahe zum guten Ton zählte und noch nicht bekannt war, wie gravierend und gefährlich die Auswirkungen diverser Substanzen sind. Doch George Wethern konnte durch seinen eigenen Konsum und die Beobachtung anderer Mitglieder durchaus abschätzen, was Drogen einem Menschen antun können. Er sah Brüder daran zugrunde gehen. Er hätte seinen Freund und Geschäftspartner Zorro beinahe getötet, weil er unter dem Einfluss von PCP, einem Tierberuhigungsmittel, nicht mehr klar denken konnte. Zu behaupten, er hätte nicht gewusst, welches Gift er unters Volk brachte, wäre gelogen.

 

Es ist für mich schwer einzuschätzen, wie Wethern seine früheren Verbrechen im Nachhinein beurteilt. Sogar nach den über 250 Seiten seiner Autobiografie kann ich nicht sagen, was er empfindet, wenn er an seine turbulente, kriminelle Zeit bei den Hell’s Angels zurückdenkt. Wehmut? Schuld? Bedauern? Ich weiß es nicht, weil „A Wayward Angel“ akribisch nüchtern gestaltet ist. Der ehemalige Vize schildert all seine Erlebnisse auf eine Weise, die es Leser_innen zwar erlaubt, sich in seine Vergangenheit hineinzuversetzen, aber seine Gefühlswelt zum Zeitpunkt des Entstehens des Buches schirmt er ausnahmslos ab. Vielleicht konnte er seine Geschichte nicht anders erzählen. Vielleicht brauchte er die künstliche Distanz, um überhaupt über das sprechen zu können, was er erlebte. Ich bin hin- und hergerissen, was ich davon halte. Einerseits finde ich, dass seine Beschreibungen der haarsträubenden Fakten seines Lebens gerade durch ihre Nüchternheit effektvoller sind, als sie es mit moralischem Subtext jemals hätten sein können. Es gefällt mir auch, dass Wethern niemals den Eindruck erweckt, sich zu beklagen, zu rechtfertigen, Ausreden zu erfinden oder sich allgemein besser darzustellen, als er war. Das Gefühl, die reine Wahrheit zu erfahren, egal wie unangenehm sie für den Autor gewesen sein mag, begleitete mich die ganze Lektüre über. Und doch… Andererseits fehlte mir Reue. Da Wethern gar keine Ahnung seiner Emotionen vermittelt, klammert er auch aus, ob er seine Taten rückblickend bereut, angefangen mit seinem Eintritt bei den Hell’s Angels, über das, was er Helen und seinen Kindern zumutete, bis hin zu seiner Rolle als Drogenbaron. Ich vermute, dass er es tut, aber ich kann es nicht mit Garantie sagen.

 

Der rechtschaffene, integre und etwas naive Teil meines Ichs, der immer in allen Menschen das Gute sehen möchte, hätte sich gewünscht, dass Wetherns Läuterung deutlich zu erkennen wäre. Der zynische Teil meines Ichs hingegen fragt sich, was das gebracht hätte. Wäre irgendjemandem damit geholfen gewesen, wäre Wethern in „A Wayward Angel“ zu Kreuze gekrochen? Hätte er dadurch irgendein Unrecht, für das er verantwortlich war, wieder gut gemacht? Nein, natürlich nicht. Allerdings hätte er nicht um Absolution betteln müssen, um zu vermitteln, dass ihm bewusst ist, wie falsch sein früheres Verhalten war. Hätte er selbstkritisch reflektiert, statt nur zu erinnern, wäre dieser Eindruck ganz von selbst entstanden. Leider gelang ihm das nicht, weshalb ich selbst nach der Lektüre nicht sicher bin, wie ausgeprägt sein Unrechtsbewusstsein ist und dieses lediglich zwischen den Zeilen vermuten kann.

 

Meiner Ansicht nach erntete George Wethern, was er säte. Er ließ sich mit Männern ein, deren Potential zur Gewalt und Kriminalität von Anfang an sehr hoch war und spielte eine entscheidende Rolle dabei, dieses Potential zur Entfaltung zu bringen. Gibt es in seiner Lebensgeschichte überhaupt unschuldige Opfer, sind es seine Kinder, auf die die fragwürdigen Entscheidungen ihrer Eltern (ja, ich sehe auch Helen verantwortlich, denn sie hätte ihren Ehemann stets verlassen können) immensen Einfluss hatten. Trotzdem danke ich ihm für diese Autobiografie, die mich lehrte, dass der Weg, den die Hell’s Angels einschlugen, vorgezeichnet war. Ich verstehe nach der Lektüre wesentlich besser, wie sie sich zu einer hochorganisierten, global agierenden, kriminellen Vereinigung entwickeln konnten. Diese an mir nagende Frage wurde beantwortet. Für mein eigenes Leben nehme ich aus „A Wayward Angel“ glücklicherweise nichts mit. Dafür sind George Wetherns Erlebnisse zu weit von mir entfernt. Aber ich möchte mit einer allgemein gültigen Weisheit schließen, die auf Wethern passt wie die Faust aufs Auge: Karma is a bitch.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2020/03/10/george-wethern-a-wayward-angel-the-full-story-of-the-hells-angels

Mein Herz schweigt

— feeling confused
Blood Song - Anthony  Ryan

Anthony Ryan schreibt unter einem Pseudonym. Ich konnte nicht herausfinden, wie der britische Autor tatsächlich heißt, aber ich habe erfahren, dass er sich zu diesem Schritt entschied, weil er während der Entstehung seines Debüts „Blood Song“ als Beamter arbeitete. Parallel zu seinem Job studierte er damals zusätzlich in Teilzeit mittelalterliche Geschichte, weshalb sechseinhalb Jahre vergingen, bis er seinen Roman fertigstellte. Seine Arbeit war zuerst jedoch nicht von Erfolg gekrönt: er fand keinen Agenten. Daher beschloss er, „Blood Song“ im Selfpublishing zu veröffentlichen. Das Buch wurde von der Leserschaft begeistert aufgenommen und weckte dadurch das Interesse des Verlagsriesen Penguin, der Ryan einen Vertrag über drei Bücher anbot – die Geburtsstunde der Trilogie „Raven’s Shadow“. Ende gut, alles gut.

 

Nach Jahren der Gefangenschaft erblickt der berüchtigtste Häftling des Alpiranisches Reiches wieder die Sonne. Vaelin Al Sorna weiß, dass er nur befreit wurde, um zu sterben. Ein Schiff soll ihn auf die Meldeneischen Inseln bringen, wo er ein gnadenloses Duell auf Leben und Tod ausfechten wird. Auf seiner Reise begleitet ihn der kaiserliche Geschichtsschreiber Verniers, der nicht widerstehen kann, den Hoffnungstöter persönlich zu befragen. Vaelin erzählt ihm seine Geschichte. Er berichtet von seiner Kindheit und Ausbildung im strikten Sechsten Orden der Vereinigten Königslande, seiner Zeit als Glaubenskämpfer, den Kriegen als Schwert des Königs und dem Blut an seinen Händen. Doch sein größtes Geheimnis behält er für sich: die mysteriöse Macht, die in seinen Adern flüstert und ihn lehrt, zu sehen. Er kann nicht riskieren, Verniers einzuweihen, denn hinter dem Gewebe der Welt giert eine bösartige Kreatur danach, die Kontrolle über die gesamte Menschheit an sich zu reißen. Vaelin ist der einzige, der ihre Pläne vereiteln kann. Er ist der Rabenschatten. Sein Lied ist noch nicht gesungen.

 

Zwischenzeitlich dachte ich, ich würde es niemals fertigbringen, „Blood Song“ zu rezensieren. Ewig habe ich auf diesem Trilogieauftakt herumgedacht, habe versucht, ihn auseinanderzunehmen und meine Gefühle beim Lesen zu analysieren. Wieder und wieder nahm ich Anlauf. Wieder und wieder rannte ich gegen eine Wand und holte mir eine blutige Nase. Möglicherweise habe ich irgendwann sogar meinen Laptop angeschrien und das Buch gedanklich als fieses, gemeines Biest betitelt, weil ich keinen Ansatz fand, immer wieder abrutschte und mit allem, was ich (digital) zu Papier brachte, unzufrieden war. Ich musste mich fragen, was da los war, warum ich so fürchterlich blockierte. Ich verrate es euch: ich verstrickte mich immer tiefer in meiner Frustration, weil ich den Auftakt der „Raven’s Shadow“-Trilogie besser bewerten wollte, als er ist. Ja, das klingt hart, ich weiß. Doch in meiner aktuellen Lage hilft nur brutale Ehrlichkeit. „Blood Song“ ist kein schlechtes Buch, das möchte ich klarstellen. Ich freue mich für alle, die die Lektüre begeistert genossen und will absolut nicht abstreiten, dass Anthony Ryan einen guten Job machte, als er es völlig im Alleingang schrieb und veröffentlichte. Aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: ich hätte keine Schwierigkeiten, diesen Roman zu besprechen, hätte er bei mir mehr Eindruck hinterlassen. Meiner Meinung nach ist „Blood Song“ ganz stinknormale, durchschnittliche High Fantasy. Die Euphorie, die offenbar viele Rezensent_innen dafür empfinden, teile ich nicht. Ich sehe darin nichts Besonderes und erst recht keine Offenbarung. Es enthält einige interessante Ideen und leitet eine verschachtelte, komplexe Geschichte ein, die der perfekte Nährboden für zahlreiche spannende Konflikte ist – das ändert jedoch nichts daran, dass mich Ryans blutleerer Schreibstil emotional nicht abholte. Ich empfand keine Leidenschaft, kein Feuer und habe die meisten Entwicklungen distanziert hingenommen. Mein Interesse war stets rein intellektueller Natur; beispielsweise wollte ich natürlich herausfinden, wie Ryan die Rahmenerzählung der Gegenwart, in der sein Protagonist Vaelin Al Sorna als Gefangener des Alpiranischen Reiches auf die Meldeneischen Inseln verschifft wird und ein langes Gespräch mit dem kaiserlichen Historiker Verniers führt, mit der Binnenhandlung der Vergangenheit, die Vaelins Werdegang detailliert beschreibt, zusammenführt. Ebenso nahm ich das interessante Worldbuilding, das die Kultur des mittelalterlichen Europas mit den religiösen Merkmalen eines Ahnenkults kombiniert, wohlwollend zur Kenntnis. Dennoch funkte es nicht, weil ich nicht an Vaelin herankam, der so wenig in Kontakt mit seinen Gefühlen steht, dass er auch mir den Zugang verwehrte. Ohne eine emotionale Bindung an die Hauptfigur las sich „Blood Song“ für mich spröde und abstrakt. Nicht einmal ich kann rund 600 Seiten High Fantasy bejubeln, wenn mein Herz schweigt.

 

Die High Fantasy nimmt in meiner Lesewelt eine Sonderrolle ein. Es ist mein Lieblingsgenre, für das ich – zugegeben – gern mal ein Auge zudrücke. Meine Erfahrung mit „Blood Song“ beweist allerdings, dass selbst ich Grenzen habe und gewisse Mindestanforderungen erfüllt sein müssen, um diese Nachsicht zu rechtfertigen. So gern sich mein Kopf durchsetzen wollte und mir immer wieder vorbetete, in welcher Hinsicht der Auftakt der „Raven’s Shadow“-Trilogie bemerkenswert ist, gegen die Stimme meines Bauches, den ich als Sprachrohr meines Herzens interpretiere, konnte er nicht bestehen. Ist der Bauch unglücklich, bin ich es auch. Selbstverständlich ist es schade, dass „Blood Song“ bei mir nicht die Reaktion auslöste, die ich mir wahrscheinlich ebenso wünschte wie der Autor Anthony Ryan, doch entschuldigen werde ich mich dafür nicht, denn meiner Ansicht nach war nicht ich das Problem. Hätte Ryan nur ein klein wenig mehr Wert auf die emotionale Ebene seiner Geschichte gelegt, hätte er mich gehabt. Ich werde sehen, ob ihm das in der Fortsetzung „Tower Lord“ besser gelingt.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2020/02/25/anthony-ryan-blood-song

Ein Märchen in Weiß, Schwarz und Rot

— feeling crazy
Red Queen - Christina Henry

„Red Queen“, die Fortsetzung der „Chronicles of Alice“ von Christina Henry, ist keine weitere Adaption von „Alice im Wunderland“. Zwar enthält der zweite Band einige Reminiszenzen an Carrolls Kinderbuchklassiker, aber für die Handlung bezog Henry ihre Inspiration hauptsächlich aus dem norwegischen Märchen „Östlich von der Sonne und westlich vom Mond“, das an „Die Schöne und das Biest“ erinnert und mir gänzlich unbekannt war. Darin geht es um einen verfluchten Prinzen, der sich tagsüber in einen weißen Bären verwandelt und von seiner Auserwählten davor bewahrt wird, eine abscheuliche Trollin heiraten zu müssen. Henry mochte die Umkehr des Rettungsmotivs und entwickelte für „Red Queen“ eine Variante, in der ihre Alice erneut zur Heldin wird.

 

Nach den furchtbaren Ereignissen in der Altstadt hegt Alice nur einen Wunsch: sie träumt von einem idyllischen Leben, das die grausamen Wunden ihrer Vergangenheit heilt. Hatcher wird jedoch erst Frieden finden wird, wenn er mit seiner Tochter vereint ist, die ihm vor langer Zeit gestohlen wurde. Auf der Suche nach ihr bereisen Alice und Hatcher eine verdorrte, tote Welt, stets geleitet von seinen zerbrochenen, unvollständigen Erinnerungen, die die beiden zum Reich der verrückten Weißen Königin führen. Seit Generationen kontrolliert sie das Land mit ihren niederträchtigen Zaubern in einem nicht endenden Krieg mit dem Schwarzen König. Will sie ihr gegenübertreten, muss Alice lernen, ihre eigenen Kräfte zu akzeptieren und zu nutzen. Doch allein wird es ihr nicht gelingen. Sie braucht Hilfe. Die Hilfe der mächtigen Roten Königin…

 

Es ist deutlich spürbar, dass „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“ Christina Henry nicht als primäre Inspirationsquellen für „Red Queen“ dienten. Ich wusste während der Lektüre nicht, dass sie sich stark an „Östlich von der Sonne und westlich vom Mond“ orientierte, aber ich musste es auch nicht wissen, um zu erkennen, dass der zweite Band eher den Regeln eines Märchens folgt als Lewis Carrolls weltberühmten Romanen. Viele Szenen verlangen von Alice und Hatcher, Versuchungen zu widerstehen und enthalten Elemente und Motive, die eindeutig eine märchenhafte Qualität aufweisen und moralische Botschaften vermitteln. Dadurch ist „Red Queen“ weniger düster, blutig und explizit gewalttätig. Der Horroraspekt der Geschichte äußert sich durch subtilen Psychoterror und versteckte Gefahren, denn die Weiße Königin, die Christina Henry als Antagonistin positioniert, ist eine Verführerin, die gezielt mit den sündigen Sehnsüchten der Menschen spielt. Ich fand es schade, dass Henry folglich bewusst auf die verdrehte, brodelnde Atmosphäre des ersten Bandes „Alice“ verzichtete. Dennoch verstehe ich ihre Entscheidung, den Fokus der Fortsetzung zu verschieben, voll und ganz. „Red Queen“ schildert im Gegensatz zu „Alice“ nicht länger den nackten Überlebenskampf der Protagonistin Alice. Vielmehr stellt Henry sie vor die schwierige Aufgabe, herauszufinden, wer sie nach all dem Leid, das ihr angetan wurde, sein möchte und wie sie mit ihren beängstigenden Erinnerungen umgehen kann. Die erwachte Heldin muss sich neu erfinden. Hinsichtlich ihrer Entwicklung ist der zweite Band dementsprechend bemerkenswert schlüssig und plausibel; Stück für Stück baut Alice ihre Identität um den tiefliegenden Kern ihrer Persönlichkeit herum auf, den sie passenderweise „Aliceness“ tauft. Dafür benötigt sie selbstverständlich Stimuli und ihre einzigartige Beziehung zu Hatcher eignet sich hervorragend, um ihre fortschreitende Metamorphose sanft zu steuern und als aktiven Prozess darzustellen. Als Hatcher in die Fänge der Weißen Königin gerät, fällt es Alice zu, seine Rettung in die Hand zu nehmen. Sie muss sich nicht nur mit ihren Kräften, sondern auch damit auseinandersetzen, was sie für ihn empfindet und was er ihr bedeutet. Mir erschien ihre Verbindung außergewöhnlich verständnisvoll und freiheitsorientiert. Sie sind eines dieser Paare, die einander wirklich besser machen, die Kraft aus ihren zärtlichen Gefühlen schöpfen, ohne einander in ein Korsett der Erwartungen zu zwängen. Da sie beide schwer traumatisiert sind, fordern sie niemals mehr, als der/die andere zu geben bereit ist. Es war herzergreifend, sie zusammen zu erleben. Leider hatte die Konzentration auf Alice allerdings den Nachteil, dass sie den Nebencharakteren die Show stiehlt und diese beinahe ausschließlich als Motivation ihres persönlichen Wachstums fungieren. Besonders die beiden Königinnen erhielten nicht die Auftritte, die ihnen angesichts ihres gewaltigen literarischen Erbes meiner Meinung nach zugestanden hätten. Daher wirkten einige Handlungsstränge etwas verwaist und inkonsequent umgesetzt. Ich begreife natürlich, dass sich „Red Queen“ ganz um Alice drehen sollte, doch ein runderes Gesamtbild hätte mir trotzdem besser gefallen.

 

Ich fand „Red Queen“ nicht ganz so gut wie „Alice“. Es ist eine Fortsetzung, die die Stärken des ersten Bandes absichtlich hinter sich lässt, um ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die Entfernung von Lewis Carrolls Originalen war zu erwarten und logisch, aber für mich war es schwierig, mich damit abzufinden, dass die Protagonistin Alice Abenteuer erlebte, die eher an ein Märchen erinnerten. Ich vermisste vor allem die hypnotische Atmosphäre, die mich im ersten Band fesselte. Der grundlegende Tenor von „Red Queen“ ist wesentlich zahmer und weniger bedrohlich, wodurch ich das Gefühl hatte, dass Christina Henry auf genau den Aspekt verzichtete, der mich außerordentlich begeisterte. Obwohl mich die Entwicklung freute, die Alice erfährt, war ich deshalb etwas enttäuscht von „Red Queen“. Ich setze nun große Hoffnungen in die Novellensammlung „Looking Glass“, die im April 2020 erscheint und in der Henry einige ungeklärte Fragen zu Alices und Hatchers Geschichte beantwortet. Vielleicht erhalte ich dann doch noch die Chance auf einen zweiten Sturz durch das Kaninchenloch.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2020/02/18/christina-henry-red-queen

Aggressiv tragisches Trauerspiel

— feeling too sad
Miramont's Ghost - Elizabeth Hall

Das Anwesen Miramont Castle, das eine wichtige Rolle in „Miramont’s Ghost“ von Elizabeth Hall spielt, existiert tatsächlich. Es befindet sich in Manitou Springs, Colorado und wurde 1897 von dem französischen Priester Jean Baptiste Francolon für sich selbst und seine Mutter Marie Francolon erbaut. Die Francolons lebten dort allerdings nur drei Jahre. Sie verließen das Haus 1900 aus unbekannten Gründen fluchtartig und kehrten nie zurück, was bis heute zu Spekulationen einlädt. Man munkelt sogar, in dem alten Gebäude würden Geister ihr Unwesen treiben…

 

Es heißt, in Miramont Castle spukt es. Die Leute behaupten, manchmal könne man in dem Anwesen in Manitou Springs, Colorado eine junge Frau in einem altmodischen Kleid am Fenster stehen sehen. Sie berichten von Gegenständen, die sich wie von Geisterhand bewegen. Niemand ahnt, dass die junge Frau eine Gefangene ihrer eigenen Vergangenheit ist. Adrienne Beauvier wurde 1880 als Enkeltochter des Grafen von Challembelles in Frankreich geboren. Früh zeigte sich, dass sie anders war. Sie wusste Dinge, die sie nicht wissen sollte. Sie sah Dinge, die sie nicht sehen sollte. Als ihre Visionen begonnen, ihr die dunklen Geheimnisse ihrer Familie zu offenbaren, zog sie den Hass ihrer Tante Marie auf sich. Marie schreckte vor nichts zurück, um Adrienne zum Schweigen zu bringen. Sie entriss sie ihrem Heim und brachte sie ins ferne Amerika, nach Manitou Springs, in das Haus, das ihr Sohn Julien erbaut hatte. Sie zwang Adrienne, ihre aristokratische Herkunft zu verleugnen und ihr als Hausmädchen zu dienen. Doch die Geheimnisse, die Marie zu vertuschen versuchte, folgten ihnen. Sie holten sie ein. Heute sind Marie und Julien lange tot. Nur Adrienne ist noch immer dort…

 

„Miramont’s Ghost“ ist möglicherweise das tragischste Buch, das ich je gelesen habe. Es ist aggressiv tragisch, ein offensiver Angriff auf die Herzen der Leser_innen. Nach der Lektüre möchte man sich theatralisch schluchzend in eine Ecke werfen und nie mehr aufstehen, weil ernsthaft zu bezweifeln ist, dass die Sonne je wieder scheint. Dieser historische Schauerroman ist schwer zu ertragen, denn die gesamte Geschichte ist vom Mitleid der Leser_innen für die Protagonistin Adrienne abhängig und Elizabeth Hall zieht jedes Register, um sicherzustellen, dass sich auch ja alle vor Bedauern krümmen. Mir war das zu viel. Ich fühlte mich mit dem emotionalen Druck äußerst unwohl. Es war zu viel Leid; Hall überhäuft Adrienne mit Elend, sodass ich mich fragte, womit das arme Mädchen diese harte Bestrafung verdiente. Sie erlaubt Adrienne nicht, Einfluss auf die Handlung von „Miramont’s Ghost“ zu nehmen und verankert sie von Anfang an in einer starren Opferrolle, sodass meine Leseerfahrung ausschließlich daraus bestand, einen gramvollen Schicksalsschlag nach dem anderen zu beobachten. Adrienne darf sich nicht wehren, sie darf nicht reagieren, Hall zwingt sie, all das Unrecht, das ihr angetan wird, stoisch und tatenlos auszuhalten. Ich fand diesen passiven Fokus äußerst schwierig. Es ist bedrückend, eine Protagonistin zu begleiten, der es verboten ist, die Initiative zu ergreifen und für sich selbst einzustehen, besonders, wenn dieser Protagonistin durchaus Mittel zur Verfügung stünden, um sich selbst zu schützen. Adrienne besitzt hellseherisches Talent, bemüht sich jedoch niemals, Kontrolle über ihre Fähigkeiten zu erlangen. Sie lehnt ihre Visionen ab, wird von ihnen überwältigt und provoziert dadurch die Feindseligkeit ihrer Tante Marie, der sie hilflos ausgeliefert ist. Das Schlimmste daran ist, dass ihre Hellsichtigkeit noch nicht einmal einen Unterschied macht. Adrienne ist keine echte Bedrohung für Marie und Julien Francolon, sie ist lediglich eine diffuse Ergänzung ihrer ohnehin existierenden Konflikte, weil ihre Visionen ihr nicht verraten, welches Geheimnis die beiden verbergen. Maries Bosheit erschien mir deshalb übertrieben und ihre drastische Entscheidung, Adrienne nach Manitou Springs zu verschleppen, wirkte aus der Luft gegriffen, denn es gibt keine Vorgeschichte geringerer Grausamkeiten. Vor Adriennes Entführung äußert sich ihre angespannte Beziehung maximal in zornigen Blicken und schneidenden Kommentaren. Wieso Marie plötzlich beschließt, Adrienne endgültig kaltzustellen, konnte ich nicht nachvollziehen. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei um eine künstliche Eskalation, die Elizabeth Hall vornahm, um zwei Geschichten zu verbinden, die eigentlich nicht zusammenpassen. Sie wollte eine Erklärung für die mysteriöse, überstürzte Abreise von Mutter und Sohn aus Miramont Castle anbieten und dafür die Gerüchte über Geister in dem Anwesen nutzen, konnte mich allerdings nicht davon überzeugen, dass ein Zusammenhang bestehen könnte, weil Adrienne frappierend wenig mit den Motivationen der Francolons zu tun hat. In ihrer eigenen Biografie ist sie kaum mehr als eine Randfigur – wenn das mal nicht traurig ist.

 

Ich finde nicht, dass Elizabeth Hall die Verbindung von Fakten und Fiktion in „Miramont’s Ghost“ gelungen ist. Ihr mystisch angehauchtes Szenario, das das plötzliche Verschwinden der Francolons aus Miramont Castle erklären soll, empfinde ich als unglaubwürdig, weil sie nicht konsequent vorging. Um Adriennes Schicksal plausibel mit dem Duo zu verknüpfen, hätte sie ihrer Protagonistin Raum und Mut zum Handeln zugestehen müssen. Da sie Adrienne als paralysiertes Opfer charakterisiert, hat diese als Figur zu wenig Gewicht, um Einfluss auf die Geschichte zu nehmen. Sie ist irrelevant. Ihre hilflose Untätigkeit zieht sich leider durch das gesamte Buch, weshalb beim Lesen keine Spannung aufkam und ich mich nur über die Seiten hievte, weil ich darauf hoffte, dass dem bemitleidenswerten Häufchen Elend etwas Gutes widerfährt. Wenn ihr Lust habt, mal so richtig mit einer Figur zu leiden, ist „Miramont’s Ghost“ daher die passende Lektüre für euch – andernfalls muss ich abraten. Dieses Trauerspiel müsst ihr euch nicht antun.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2020/02/11/elizabeth-hall-miramonts-ghost

Angenehm gewaltarm, aber melodramatisch

— feeling unshaven
Raging Star - Moira Young

Für Moira Young begann die „Dust Lands“-Trilogie in ihrer heutigen Form mit der Stimme ihrer Protagonistin Saba. Ursprünglich sollte die Geschichte in einer Eis-Welt spielen, geschildert aus der personalen Erzählperspektive. Young schrieb einen ersten Entwurf, musste diesen jedoch zur Seite legen, weil sie umzog. Drei Monate später kehrte sie zu ihrem Manuskript zurück und stellte fest, dass ihr Herz nicht daran hing, jedenfalls nicht so, wie es war. Sie begann von vorn und experimentierte mit Sabas Figur. Erst, als sie es mit der Ich-Perspektive versuchte, erwachte Saba wirklich zum Leben. Sie sprach in ihrem Kopf, in ihren eigenen Worten. Mit Sabas trockener, rauer Stimme kamen Bilder einer sonnenverbrannten, staubigen Prärie. Young änderte das Setting und die Dustlands waren geboren. Seitdem konnte sich Young darauf verlassen, dass Saba ihr ihre Geschichte erzählte, die ihren Abschluss im Finale „Raging Star“ erreicht.

 

Saba ist bereit, ihr Leben zu riskieren, um DeMalos ungerechte Vision einer neuen Weltordnung zu verhindern. Sie würde beinahe alles tun, um ihn aufzuhalten. Doch Unschuldige zu verletzen war nie ihre Absicht. Als eine Sabotagemission in einem Desaster endet, erkennt Saba, dass der Widerstand andere Strategien finden muss, um sein diktatorisches System zum Einsturz zu bringen. Leider läuft ihr die Zeit davon. DeMalo stellte ihr ein Ultimatum: entweder, sie liefert sich in fünf Tagen selbst aus und garantiert ihren Verbündeten freien Abzug aus New Eden oder seine Tonton werden sie alle töten. Sie muss die Free Hawks davon überzeugen, der Gewalt abzuschwören, bevor der Blutmond am Himmel steht und sie zu Gejagten werden. Saba ahnt nicht, dass Verrat in ihren eigenen Reihen gärt. Schon bald könnte sie alles verlieren, das ihr je etwas bedeutete. Niemals stand mehr für sie auf dem Spiel…

 

Wisst ihr, was mich an Dystopien und Postapokalypsen im Young Adult – Bereich oft stört? Ich finde den übermäßigen Einsatz von Gewalt zur Steigerung des Actionlevels bedenklich. Da wird geschossen, geprügelt, Bauten werden in die Luft gesprengt, Figuren werden entführt und/oder überfallen, es gibt Verfolgungsjagden und Einbrüche. Über kollaterale Opfer macht sich niemand wirklich Gedanken. Im Zweifelsfall heiligt der Zweck jedes Mittel. Deshalb freut es mich, dass Moira Young in „Raging Star“ eine andere Herangehensweise anstrebt. Oh, natürlich kommt auch das Finale der „Dust Lands“-Trilogie nicht völlig ohne Gewalt aus, aber Young beschränkt ihr Auftreten auf ein Mindestmaß und verwendet diese Szenen nicht leichtfertig, sondern bewusst. Das ist erfrischend und ehrt die Autorin, weil ich das Gefühl hatte, sie bemühte sich gezielt, Alternativen zu finden, um die Handlung des letzten Bandes spannend und aufregend zu gestalten. Dafür stattete sie ihre Protagonistin Saba mit einem funktionalen Gewissen und einer moralischen Integrität aus, die es ihr verbieten, leichtsinnig andere Leben zu riskieren. Obwohl „Raging Star“ den Höhepunkt ihres ideellen und persönlichen Konflikts mit DeMalo darstellt, ist sie nicht bereit, ihrem Ziel, ihn und seine Vision von New Eden zu stürzen, alles unterzuordnen. Zu Beginn des Buches erleben die Leser_innen eine gescheiterte Sabotagemission, die Saba zum Umdenken zwingt. Sie erkennt, dass sie DeMalo weder mit seinen eigenen Waffen schlagen kann noch will. Sie beschließt, den Widerstand der Free Hawks in die Herzen der Menschen zu tragen und in ihnen die Sehnsucht nach Freiheit zu wecken, statt mit Guerillataktiken Angst und Schrecken zu säen. Was folgt, ist die Geschichte einer friedlichen Rebellion, in deren Mittelpunkt Familienbande stehen. Ich fand diesen Ansatz originell, berührend und war beeindruckt, wie aufmerksam Saba die Schwächen in DeMalos System entlarvt. Sie ist eine inspirierende Persönlichkeit. Zur Anführerin ist sie dennoch nicht geschaffen, denn als Einzelgängerin fühlt sie sich mit der resultierenden Verantwortung unwohl. Erneut war ich entsetzt, wie streng sie von ihren Mitstreiter_innen der Free Hawks behandelt wird. Sie alle verlangen viel zu viel von Saba und vergessen, dass sie unter ihrer harten Schale nur ein Teenager ist. Sie steht unter gewaltigem Druck, den Moira Young zusätzlich durch die straffe Chronologie der Ereignisse verschärft. Eine Revolution in fünf Tagen auf die Beine zu stellen, ist schlicht unrealistisch. Schon durch die Entfernungen, die die Figuren zurücklegen müssen, erschien mir dieser erbarmungslose Zeitplan unglaubwürdig und ist meiner Meinung nach ein überflüssiger Taschenspielertrick, um Tempo und Dramatik der Handlung künstlich anzuziehen. „Raging Star“ mag angenehm gewaltarm sein – Pathos weist es dagegen in Hülle und Fülle auf, wie wir es aus der Jugendliteratur gewohnt sind.

 

Es fehlte nicht viel und ich hätte „Raging Star“ im Brustton der Überzeugung als besten Band der „Dust Lands“-Trilogie bezeichnet. Die intelligente Handlung einer friedfertigen Revolution erlaubte es Moira Young, weitgehend auf gewalttätige Szenen zu verzichten und stattdessen andere Optionen auszunutzen, um den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten. Ich wünschte, sie hätte diesem Konzept größeres Vertrauen entgegengebracht. Offenbar verleitete sie die Sorge, „Raging Star“ könnte nicht aufregend genug sein, dazu, den Druck auf ihre Protagonistin Saba unnötig zu maximieren, sodass einige Details des Finales unrealistisch und melodramatisch wirken. Trotzdem bin ich mit diesem Abschluss insgesamt zufrieden, denn Young traf konsequente, mutige Entscheidungen für Saba, die zwar sicher nicht allen Leser_innen gefallen, meiner Meinung nach jedoch der einzige Weg waren, ihr gerecht zu werden. Ich zweifle nicht daran, dass Saba Frieden finden wird und lasse sie guten Gewissens ziehen. Moira Young hingegen werde ich als Autorin auf meinem Radar behalten, die im kleinen Rahmen unkonventionelle Wege beschreitet. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2020/02/05/moira-young-raging-star

Zeugnis der völligen Entseelung einer Stadt

Brennen muss Salem - Stephen King, Christoph Wagner, Ilse Winger

„Brennen muss Salem“ ist Stephen Kings zweiter veröffentlichter Roman. Er erschien 1975; den deutschsprachigen Buchmarkt erreichte er 1979. Die erste deutsche Version wurde in Österreich verlegt; die Übersetzung lieferten Ilse Winger und Christoph Wagner. Sie verwendeten dabei Formulierungen, die für den österreichischen Sprachgebrauch typisch, in der Bundesrepublik jedoch eher unbekannt sind. Außerdem kürzten sie das Manuskript erheblich und zensierten Kraftausdrücke. Zum Vergleich: die für April 2020 vorgesehene Neuauflage von Heyne umfasst ca. 620 Seiten, meine Heyne-Ausgabe von 1993 hingegen lediglich 375 Seiten. Als ich herausfand, dass ich eine gekürzte Version besitze, ärgerte ich mich mächtig. Natürlich hatte ich nicht geplant, nur den halben Roman zu lesen. Nun war die gekürzte Ausgabe aber da und ich hatte „Brennen muss Salem“ bereits als nächste Lektüre auserkoren – daher beschloss ich, es erst einmal mit der schlankeren Fassung zu versuchen. Sollte mir das Buch gefallen, würde ich die vollständige Variante nachholen. Mit diesem Kompromiss konnte ich leben.

 

Es ist kurz nach Sonnenuntergang, als ein junger Mann und ein kleiner Junge das Städtchen in Maine fluchtartig verlassen. Sie wollen nie mehr zurückschauen. Das Grauen grub sich tief in ihre Seelen, denn hinter ihnen liegt eine Begegnung mit dem puren Bösen. Wenn sie die Augen schließen, sehen sie erschreckende Bilder von Blut und Tod; in ihren Träumen sucht sie die Bestie heim, der sie nur knapp entkamen. Sie wissen, dass es noch nicht vorbei ist. Sie müssen zurückkehren. Zurück in die Stadt in Maine, in der auf einem Hügel ein Haus thront wie das Tor zur Hölle. Sie müssen beenden, was sie begonnen haben. Salem’s Lot muss brennen.

 

Aktuell bin ich nicht überzeugt, dass ich „Brennen muss Salem“ noch einmal lesen werde. Vielleicht ändert sich das eines Tages, vielleicht setze ich es mir irgendwann in den Kopf, dass ich nicht weiterleben kann, ohne Stephen Kings Gesamtwerk auf Herz und Nieren geprüft zu haben und verurteile die gekürzte Ausgabe seines zweiten veröffentlichten Romans als Schandfleck, aber im Moment habe ich nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. „Brennen muss Salem“ ist in vielerlei Hinsicht ein typischer King und präsentiert eine altmodische Form des Horrors. Kein Wunder, schließlich erschien das Buch erstmals 1975. Seitdem hat sich das Genre erheblich weiterentwickelt und der Meister des Horrors selbst ebenfalls. Deshalb ist es kaum überraschend, dass mich die Geschichte nicht vom Hocker riss. Damit will ich nicht sagen, dass diese nicht unheimlich oder gar langweilig sei, sondern nur, dass ich eher auf eine modernere Horrorspielart anspringe. Um Schauder zu empfinden, musste ich mir sehr genau vor Augen halten, was ich dort an der Seite des Protagonisten Ben Mears, Schriftsteller, bezeugte: die völlige Entseelung einer Stadt innerhalb kürzester Zeit. Zu Beginn des Buches erfahren die Leser_innen von sogenannten Geisterstädten: Ortschaften, die scheinbar Hals über Kopf von all ihren Bewohner_innen verlassen wurden. Dadurch vermittelt King schnell eine düstere Vorahnung dessen, was Salem’s Lot bevorsteht und schafft einen Kontext, der meiner Meinung nach bewusst an das Trauma und Mysterium der ersten englischen Kolonie Roanoke erinnert. Während das Geheimnis der legendären menschenleeren Siedlung allerdings nie gelöst wurde, bietet King eine konkrete Erklärung. Dafür greift er auf einen wohlbekannten Mythos zurück: das „Dracula“-Narrativ. „Brennen muss Salem“ ist eine Vampirerzählung im alten Stil, keine Hexengeschichte, wie ich aufgrund der Assoziation mit den Hexenprozessen von Salem (das übrigens in Massachusetts liegt, nicht in Maine) irrtümlich annahm. Salem’s Lot wird heimgesucht und niemand bleibt unberührt. Für mich ging der Gruselfaktor von der Ausweglosigkeit und Absolutheit der Situation aus, denn King eröffnet bereits im Prolog, dass seine Helden – Mears und sein 12-jähriger Gefährte Mark Petrie – Salem’s Lot zuerst nicht befreien können und deshalb zurückkehren müssen. Es war eine schwierige Erfahrung, die Figuren so machtlos zu erleben und die vergebliche Atmosphäre aushalten zu müssen, weil sie sich keineswegs dumm anstellen. Sie treffen sinnvolle Entscheidungen und schmieden vielversprechende Pläne, die in mir immer wieder neue Hoffnung entfachten, schlussendlich jedoch scheitern. King treibt demzufolge ein perfides Spiel mit seinen Leser_innen, indem er die Aussicht auf Erlösung wie eine Karotte vor der Nase baumeln lässt, um sie im letzten Augenblick wegzuziehen. Diese Rückschläge verkraftete ich nur, weil ich wusste, dass Ben und Mark zurückkehren und es zu Ende bringen würden. Ohne diesen Silberstreif am Horizont wäre die Handlung zu deprimierend geraten, aber King wusste eben schon damals, was er tat.

 

Die Lektüre von „Brennen muss Salem“ vergegenwärtigte mir, wie sehr sich das literarische Vampirmotiv in den letzten Jahrzehnten veränderte. Für mich verloren Vampire durch ihre inflationäre Verwendung in der Urban Fantasy ihren Schrecken. Nicht einmal Stephen King gelingt es, diese Schale der unfreiwilligen Abhärtung zu durchdringen, obwohl seine Version der Blutsauger absolut nichts mit in der Sonne glitzernden Adonis-Verkörperungen zu tun hat. Verleitet das Monster der Wahl nicht zu Furcht und Anspannung, kann ein Horrorroman nicht seine volle Wirkung entfalten. Darüber hinaus entstand „Brennen muss Salem“ sehr früh in Kings Karriere, weshalb sein schriftstellerisches Talent damals noch nicht über den Feinschliff verfügte, der in seinen späteren Büchern erkennbar ist. Nichtsdestotrotz empfand ich die Geschichte als beunruhigend; sie verfehlte ihr Ziel dementsprechend nicht komplett. Ich bezweifle im Moment, dass ich die Lektüre mit der vollständigen Fassung wiederholen werde, aber wer weiß schon, was die Zukunft bringt. Vielleicht möchte ich Salem’s Lot irgendwann noch einmal brennen sehen.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2020/02/04/stephen-king-brennen-muss-salem

Strafe muss sein

— feeling ghost
The Accursed - Joyce Carol Oates

Von 1978 bis 2014 unterrichtete Joyce Carol Oates Kreatives Schreiben an der Eliteuniversität Princeton in New Jersey. Princeton wurde 1746 gegründet und ist die viertälteste Universität der USA. Die reiche Geschichte der privaten Hochschule inspirierte Oates. Besonders faszinierte sie das Rektorat von Woodrow Wilson, der dieses Amt von 1902 bis 1910 ausübte. Der 28. US-Präsident wird im kollektiven US-amerikanischen Gedächtnis als progressiver, reformerischer Held verehrt, der die USA bis 1917 aus dem Ersten Weltkrieg heraushielt. Es wird hingegen gern verschwiegen, dass er ein Rassist war, der die Rassentrennung unterstützte und das Frauenwahlrecht ablehnte. 1984 hatte Oates genügend Material über Princeton während Wilsons Rektorat gesammelt, um einen Roman zu beginnen, der die vernachlässigte moralische Verpflichtung der weißen Elite der afroamerikanischen Bevölkerung gegenüber thematisiert, doch sie fand nicht die richtige Erzählstimme, den richtigen Ansatz für ihre Geschichte. Knapp 30 Jahre ruhte das Manuskript. 2011 hatte sie eine Eingebung und holte es wieder hervor. Es entstand der Schauerroman „The Accursed“, in dem Oates die Gleichgültigkeit der weißen Oberschicht mit einem Fluch bestraft.

 

1905 ist das ruhige Universitätsstädtchen Princeton ein Hort des Wissens und des Wohlstands. Seine Einwohner_innen sind ausnahmslos hochangesehene Mitglieder der Gesellschaft. Sie stammen aus ehrwürdigen Familien, qualifizieren sich als bescheidene Berühmtheiten und bilden eine akademische Elite, die argwöhnisch über die ihren wacht. Vereinnahmt von den kleinlichen Sorgen und Streitigkeiten ihrer Gemeinschaft ignorieren sie das Unrecht der Welt. Sie erkennen nicht, dass ihre Gleichgültigkeit Konsequenzen hat. Ein Fluch sucht Princeton heim. Das Böse wandelt mitten unter ihnen und wird nicht eher ruhen, bis sie alle bestraft wurden. Sie wähnten sich sicher hinter den erhabenen Mauern vornehmer Anwesen und efeuberankter Universitätsgebäude. Doch keine Seele bleibt unberührt.

 

„The Accursed“ ist eine Inszenierung. Von der ersten bis zur letzten Seite ist dieser Schauerroman ein wohldurchdachtes Konstrukt, in dem jedes Detail dazu beiträgt, die rassistische Ignoranz der weißen akademischen Elite um die Jahrhundertwende herum zu verurteilen. Joyce Carol Oates akzeptiert keine Ausreden, keine Ausflüchte und keine Relativierungen. Sie straft. Und sie straft hart. Deshalb ist dieses Buch verblüffend grimmig und anders als jeder Roman, den ich bisher aus ihrer Feder gelesen habe. Ich liebe die Vielfältigkeit der preisgekrönten Schriftstellerin. Ich weiß nie, was mich erwartet, wenn ich eines ihrer Bücher aufschlage. „The Accursed“ überraschte mich, weil Oates ihre finstere Geschichte trotz ihrer eigenen Verbindung zu Princeton nicht selbst erzählt. Sie leiht ihre Stimme dem (wahrscheinlich) fiktiven Hobby-Chronisten M.W. van Dyck II, geboren 1906 und ein Nachfahre einer der ältesten Familien in Princeton. Die Perspektive eines indirekt Betroffenen, der sich um Objektivität bemüht, sie jedoch niemals vollständig gewährleisten kann, erlaubt es ihr, eine persönliche Nuance des sogenannten „Crosswick-Fluchs“ herzustellen, ohne die subjektive Verklärung eines Opfers zu riskieren. Gleichzeitig befreit van Dyck sie durch sein Geständnis, kein ausgebildeter Historiker zu sein, von der Notwendigkeit, rationale Interpretationen der Ereignisse anbieten zu müssen, was ihr unheimliches Potential erhöht. Die Spielarten des Fluches sind mannigfaltig und perfide, sodass dessen Muster ausschließlich rückblickend erkennbar ist und sich eine schauerliche, giftige Atmosphäre einschleicht, die einen altmodischen Geschmack auf der Zunge hinterlässt. Gestohlene Bräute, düstere Träume, Geisterheimsuchungen – jede Familie erfährt eine individuelle Form der grotesken Vergeltung, zu der sie selbst beitragen, weil die gesellschaftlichen Konventionen der Epoche und ihres Standes es ihnen verbieten, über Sorgen und Ängste offen zu sprechen. Ihr sozialer Status, der ein Grund für ihre rassistisch gefärbte Gleichgültigkeit ist, wird ihnen zum Verhängnis, was mir äußerst intelligent und angemessen erschien, denn Oates lässt sie unbemerkt selbst zu Vollstrecker_innen werden. Zusätzlich interessant wurde diese Strategie durch die Involvierung echter Figuren der Geschichte, neben Woodrow Wilson zum Beispiel Grover Cleveland, Upton Sinclair, Jack London und Mark Twain. Die Mischung erdichteter und historischer Persönlichkeiten in einem reellen Setting erzeugt in „The Accursed“ eine nervenaufreibende Spannung zwischen Fakten und Fiktion. Immer wieder fragte ich mich, welche Porträts und Beschreibungen authentisch sind und welche lediglich Oates‘ Fantasie entsprangen. Dabei ging sie so subtil vor, dass die Details kaum zu überprüfen sind. Glaubt mir, ich habe es versucht.

 

„The Accursed“ ist ein gewohnt überzeugender Roman von der Begründerin des Psychologischen Realismus. Trotz paranormaler Elemente beweist Joyce Carol Oates auch in dieser Geschichte ihr unnachahmliches Talent für einfühlsame, wirklichkeitsnahe Charakterisierungen, die die Grenzen zwischen Realität und Fiktion mühelos aushebeln. Die Lektüre war etwas schwerer verdaulich, weil der geschichtliche bzw. pseudo-geschichtliche Input immens ist und vermutlich oft mehr Informationen bietet als unbedingt nötig, aber meiner Meinung nach gehört dieser Detailreichtum zur Inszenierung und trägt zur Etablierung des Erzählers bei, den Oates unmissverständlich als Mann vorstellt, der mit Leidenschaft über sein Lieblingsthema referiert. Der vielleicht größte Unterschied zwischen „The Accursed“ und ihren übrigen Werken ist das geringe Mitgefühl, das sie ihren Figuren gegenüber zeigt. Das ist ungewöhnlich, jedoch keineswegs unmotiviert. Rassismus verdient kein Mitleid. Nicht einmal, wenn er sich durch Untätigkeit äußert.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2020/01/29/joyce-carol-oates-the-accursed

Brillant und revolutionär

— feeling horror
A Head Full of Ghosts: A Novel - Paul Tremblay

Paul Tremblay bricht eine Lanze für modernen Horror. Im Essay „The H Word: The Politics of Horror” argumentiert er, dass Horror nicht reaktionär und konservativ sein muss, um erfolgreich zu sein. Er hält das Ende von „Der Exorzist“ für einen Fehlschlag, weil Regan und ihre Mutter nach dem schrecklichen Erlebnis der Besessenheit zu den konservativen Werten der Ausgangssituation zurückkehren – die beiden leben glücklich weiter, als wäre nie etwas geschehen. Tremblay diskutiert, dass diese Wiederherstellung des Status quo der Grund dafür ist, dass sich die wenigsten an die letzten Szenen erinnern, während sie Erbsensuppe mit völlig neuen Augen betrachten. Der horrende Charakter einer Geschichte sollte nicht allein durch singuläre Ereignisse entstehen, sondern durch das Wissen, dass nichts mehr so ist wie vorher. Auf dieser Theorie fußt Tremblays Roman „A Head Full of Ghosts“.

 

Zuerst waren es nur Kleinigkeiten. Marjorie verhielt sich merkwürdig. Nachts schlich sie in das Zimmer ihrer jüngeren Schwester Merry. Sie stahl ihre Kinderbücher. Sie malte unheimliche Bilder. Sie erzählte Merry gruselige Geschichten. Dann wurde es schlimmer. Ihre Eltern schickten Marjorie zu einem Arzt. Nachts schrie sie. Sie erzählte von Geistern in ihrem Kopf, die sie nicht schlafen ließen. Es wurde noch schlimmer. Zwei Wochen verbrachte Marjorie in einem Krankenhaus. Ihr Vater suchte Trost bei der Kirche und traf Vater Wanderly. Als Marjorie zurückkehrte und noch immer nicht sie selbst war, nahmen ihre verzweifelten Eltern die Hilfe des Priesters an. Wenig später zog ein Kamerateam in ihr Haus. Doch auch sie konnten Marjorie nicht helfen.
15 Jahre später erinnert sich Merry an die furchtbaren Monate, die ihre Familie zerstörten. Unterstützt von einer Autorin kehrt sie in das Haus ihrer Kindheit zurück, um herauszufinden, was sie als 8-Jährige nicht verstand: Was ist damals wirklich geschehen? War ihre Schwester besessen?

 

Hände hoch: wie viele haben abgeschaltet, als sie das Wort „Horror“ im ersten Satz dieser Rezension lasen? Wie viele, als „Besessenheit“ dazukam? Schämt euch. Ich würde doch niemals eine abgedroschene, überholte Geschichte von Besessenheit mit fünf Sternen bewerten. Zugegeben, das Horrorgenre ist mit vielen Klischees belastet und Paul Tremblay berichtet selbst, dass er darum kämpft, als Horrorautor ernstgenommen zu werden. Aber der kleine Exkurs in der Einleitung sollte euch versichern, dass er sich dieser Klischees bewusst ist und „A Head Full of Ghosts“ deshalb kein herkömmlicher Vertreter des Genres ist. Dieses Buch interpretiert jedes Motiv, das normalerweise mit Besessenheit verbunden ist, neu. Es dreht ikonische Szenen auf den Kopf und stellt äußerst unangenehme Fragen, indem es die natürliche Distanz zwischen Geschichte und Publikum aufbricht und die Leser_innen zwingt, sich in die Figuren hineinzuversetzen, statt gierig und voyeuristisch Bilder von Blut, Gewalt und Terror aufzusaugen. Es verschiebt den Fokus des Horrors von billiger Effekthascherei zum Erleben der Charaktere, wodurch Physisches völlig in den Hintergrund rückt. Es ist sensibel, einfühlsam und intensiv. Kurz: Es ist brillant. „A Head Full of Ghosts“ schildert die tragische Geschichte der Familie Barrett aus der Perspektive der jüngsten Tochter Merry, die acht Jahre alt war, als ihre große Schwester Marjorie verrückt wurde. Ihren konsequent kindlichen Blickwinkel, der sich sowohl in ihren Erinnerungen als auch in der Gegenwart manifestiert, halte ich für den Geniestreich, der dafür sorgt, dass dieser Roman außergewöhnlich ist. Durch ihre Jugend ist Merry eine äußerst unzuverlässige Erzählerin, die zwar massenweise Informationen bereitstellt, in ihrer Interpretation jedoch eingeschränkt ist. Als Nesthäkchen der Familie war sie selbstverständlich tief in die Ereignisse involviert, wurde allerdings bewusst auf Distanz gehalten. Vieles wurde ihr nicht erklärt, die Entscheidungen ihrer Eltern blieben ihr verschlossen und ihre Beziehung zu ihrer Schwester wurde von einer idealisierenden Note geprägt, die mich an ein Märchen denken ließ. Sie sah durch einen Filter, war halb drinnen, halb draußen, was zu einer einzigartigen Wahrnehmungschronik führt und die Aufmerksamkeit der Leser_innen nicht auf Marjories Zustand lenkt, sondern auf all das, was erst ihre Anfälle und später die TV-Show der gesamten Familie antaten, was ihnen genommen wurde. Ich empfand Merry als das Opfer der Situation, weil sie am wenigsten in der Lage war, zu verstehen und ihr darüber hinaus am meisten gestohlen wurde, von der Fürsorge ihrer Eltern bis zur Sicherheit ihres Heims. Paul Tremblays Anliegen, die Auswirkungen horrender Erlebnisse zu proträtieren und die Figuren durch diese nachhaltig zu verändern, ist ihm zweifellos geglückt. Niemand kann „A Head Full of Ghosts“ lesen und glauben, nach den Geschehnissen sei wieder alles wie vorher. Es ist nie mehr wie vorher, das kann ich euch garantieren.

 

Ich hoffe sehr, dass ich euch vermitteln konnte, wie großartig „A Head Full of Ghosts“ ist. Beim Schreiben dieser Rezension hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, meine Begeisterung nicht ausreichend artikulieren zu können, weil ich über viele Details, die mich beeindruckten, einfach nicht sprechen kann, ohne zu spoilern. Es ist nämlich nicht nur eine exzellente psychologische Analyse von Horror, es ist auch ein Buch, das mit zahlreichen, oft versteckten Erkenntnissen aufwartet, die ich keinesfalls vorwegnehmen möchte. Ich muss darauf vertrauen, dass ihr herauslesen könnt, wie bewegend ich die Geschichte fand, die Paul Tremblay erzählt und wie revolutionär diese für das Genre ist. Ich bete, dass ihr „A Head Full of Ghosts“ eine Chance gebt, sogar wenn ihr sonst nicht viel mit Horror anfangen könnt. Dieses Buch ist anders, darauf gebe ich euch Brief und Siegel. Wahrer Horror entsteht nicht durch Brutalität oder Schock – er entsteht durch die Infragestellung unserer Glaubensgrundsätze.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2020/01/28/paul-tremblay-a-head-full-of-ghosts

Lebendige Geschichte

— feeling surprised
Commissaire Le Floch und Der Brunnen der Toten - Jean-François Parot

Jean-François Parot war ein weitgereister Mann. 1946 in Paris geboren, schloss er sein Studium als anerkannter Experte des 18. Jahrhunderts ab, absolvierte seinen Militärdienst und wurde dann Diplomat. Die Liste der Stationen seiner Karriere ist lang; als er 1999 begann, die historische Krimi-Reihe „Nicolas Le Floch“ zu schreiben, arbeitete er im bulgarischen Sofia. An den Wochenenden hatte er viel Freizeit, also setzte er sich eines Tages hin, zückte seinen neuen Stift, ein Weihnachtsgeschenk seiner Mutter und seines Sohnes, und dachte sich das erste Abenteuer seines Ermittlers aus. Seitdem sind über 20 Jahre vergangen und 13 Bände erschienen, die Blessing ins Deutsche übersetzt. Den zweiten Band „Commissaire Le Floch und der Brunnen der Toten“ erhielt ich vom Bloggerportal als Rezensionsexemplar.

 

Am Abend des 27. Oktober 1761 wird der Sohn des Grafen de Ruissec tot im Stadtpalais der Familie aufgefunden. Das Bild, das sich Commissaire Nicolas Le Floch am Tatort bietet, wirkt eindeutig: das Zimmer des jungen Vicomtes war von innen verschlossen, unweit seiner Leiche liegt eine Kavalleriepistole und auf dem Schreibtisch entdeckt Nicolas einen Abschiedsbrief. Alles deutet auf Selbstmord hin. Doch einige Details wecken Nicolas‘ Misstrauen. Als sich die Gräfin de Ruissec heimlich an ihn wendet und um ein geheimes Treffen bittet, ahnt der Commissaire, dass sie mehr über die Umstände des Todes ihres Sohnes wissen könnte. Unglücklicherweise erleidet sie einen schrecklichen Unfall, bevor das Treffen stattfinden kann. Nicolas ist alarmiert. Er glaubt nicht an einen Zufall und fürchtet, dass die Gräfin zum Schweigen gebracht werden sollte. Unerschrocken nimmt er die Ermittlungen auf, die ihn bis an den Hof von Versailles führen…

 

Mit einem Fakt muss ich mich im weiteren Verlauf der Reihe „Nicolas Le Floch“ wohl abfinden: ohne die Führung des Protagonisten bin ich hoffnungslos verloren. Der Kriminalfall, den „Der Brunnen der Toten“ schildert, ist höllisch verzwickt und kompliziert. Ich hatte keine Chance, ihn selbst zu lösen oder auch nur ansatzweise korrekte Vermutungen über die Hintergründe aufzustellen. Ich behaupte, das ist nicht möglich, verfügt man nicht über denselben Wissensschatz wie der Autor Jean-François Parot. Parot war Historiker und Anthropologe, sein Fachgebiet war das Paris des 18. Jahrhunderts. Nur diese spezielle Expertise befähigte ihn, einen Kriminalfall für Kommissar Le Floch zu konstruieren, der die heiklen, unübersichtlichen Dynamiken am französischen Hof unter Louis XV. einbezieht. Es ist vorstellbar, dass sich im Umfeld des Königs zahlreiche Verschwörungen und unerwartete Allianzen formierten, aber ohne Nicolas, der den Leser_innen stets weit voraus ist und geheimniskrämerisch viele Verdächtigungen und Schlussfolgerungen für sich behält, hätte ich die Schuldigen niemals enttarnen können. Selbst mit seiner Hilfe und der Auflösung am Ende von „Der Brunnen der Toten“, die ich tatsächlich mehrfach lesen musste, um sie zu verstehen, war ich völlig aufgeschmissen. Ich frage mich nun, ob diese bewusst lancierte Unkalkulierbarkeit des Falles ein Grund zur Kritik ist. Hätte Parot die Ermittlungen seines Protagonisten nicht verdaulicher gestalten können und müssen? Aus der Perspektive eines normalen Krimis lautet die Antwort Ja. Nun handelt es sich bei den Bänden der Reihe jedoch nicht um normale Krimis. Es handelt sich um historische Krimis. Parot schildert nicht nur eine Mordermittlung, er proträtiert auch das 18. Jahrhundert. Ich bin überzeugt, seine Geschichten zielen primär darauf ab, seinen Leser_innen etwas beizubringen, sein Wissen über und seine Faszination mit dieser Epoche zu teilen. Das gelang ihm hervorragend. Deshalb gefiel mir „Der Brunnen der Toten“ sogar besser als „Das Geheimnis der Weißmäntel“, obwohl ich lernen musste, meine andauernde Ahnungslosigkeit zu akzeptieren. Ich kam viel tiefer in die Geschichte hinein, war sehr schnell durch und genoss die Lektüre, vielleicht gerade weil ich mich in Nicolas‘ fähige Hände begeben musste. Auch hatte ich weniger Schwierigkeiten mit seiner latenten Profillosigkeit, weil ich mittlerweile vermute, dass diese seiner Rolle als Kommissar geschuldet ist. Er transportiert den Fall, nicht mehr und nicht weniger, sein Privatleben ist weitgehend irrelevant. Daher benötigt er keine minutiös ausgearbeitete Charakterisierung; seine Funktion besteht darin, eine Ermittlung zu organisieren, die wiederum die gesellschaftlichen Umstände der Zeit wiederspiegelt. Für den zweiten Band griff Parot die bereits im Volk schwärende Unzufriedenheit mit dem starren Ständesystem auf, was ich äußerst interessant fand. Er zeigt zahllose Kleinigkeiten, deren Summe 28 Jahre später zur Französischen Revolution führt. Soweit ich weiß, wird Nicolas die Unruhen der Revolution auch miterleben – eine spannende Zukunftsperspektive für die Reihe und ein Grund mehr, sie weiterhin zu begleiten.

 

Es überrascht mich immer noch, wie gut mir Jean-François Parots historische Krimis gefallen. Seine Beschreibungen der Pariser Gegenwart im 18. Jahrhundert sind vorzüglich; kleine, authentische und häufig kulinarische Details hauchen seinen fiktiven, fesselnden Kriminalfällen rund um reelle Persönlichkeiten Leben ein und lassen eine aufregende Epoche des politisch-gesellschaftlichen Umbruchs in Europa auferstehen. Seine Leidenschaft für sein Fachgebiet ist spürbar, denn er erging sich nicht in drögen akademischen Betrachtungen, sondern nutzte seine Begeisterung, um sein Wissen ganz nah zu seinen Leser_innen zu bringen. Diese Kombination knackt sogar meine Schale aus Skepsis hinsichtlich zwei Genres, die es normalerweise schwer haben, mich abzuholen. „Der Brunnen der Toten“ war eine mitreißende Lektüre und ich freue mich auf weitere Abenteuer mit Nicolas Le Floch – trotz der Erkenntnis, dass ich ohne ihn keinen einzigen Fall lösen könnte.

 

Vielen Dank an den Verlag Blessing und das Bloggerportal von Random House für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars im Austausch für eine ehrliche Rezension!

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2020/01/22/jean-francois-parot-commissaire-le-floch-und-der-brunnen-der-toten

Jalan Kendeth, die Zwiebel

— feeling cool
Prince of Fools - Mark  Lawrence

Mark Lawrence macht vieles anders als andere Autor_innen. Er plant nicht. Er plottet nicht. Er pflegt keine feste Schreibroutine. Wann immer es seine begrenzte Zeit zulässt, setzt er sich einfach hin und schreibt. Dementsprechend traf er die Entscheidung, seine populäre Grimdark-Trilogie „The Broken Empire“ aus der Ich-Perspektive zu schildern, nicht vorsätzlich, sondern intuitiv. Obwohl diese Erzählweise für die epische Fantasy ungewöhnlich ist, sieht Lawrence darin eindeutige Vorteile. Die Konzentration auf eine einzige Figur schafft Nähe, Unmittelbarkeit und befreit ihn von der Notwendigkeit, zahlreiche Handlungslinien zu organisieren. Er glaubt, dass die starken emotionalen Reaktionen seines Publikums eng damit zusammenhängen, dass er Ereignisse ohne abstrakte Distanz beschreibt. Es ist ein Unterschied, ob eine Figur aus auktorialer Perspektive erdolcht wird oder ob man direkt erlebt, wie die Hand des Protagonisten die Waffe führt. Deshalb behielt er diese Erzählperspektive in seiner zweiten Trilogie „The Red Queen’s War“ bei, deren erster Band „Prince of Fools“ einen ganz neuen Helden vorstellt.

 

Prinz Jalan Kendeth musste schon oft mit Unannehmlichkeiten fertigwerden. Bisher konnte er allen betrogenen Ehemännern, wütenden Spielpartnern und grimmigen Schuldeneintreibern entwischen, ohne seiner Großmutter, der gefürchteten Roten Königin, allzu viel Schande zu bereiten. An zehnter Stelle der Thronfolge erwartet ohnehin niemand von ihm, sich wirklich um Politik zu scheren. Lieber lässt er seinen Geschwistern den Vortritt und widmet sich seinen privaten Vergnügungen. Doch als er einen heimtückischen magischen Anschlag überlebt, wird Jalan unerwartet in den Krieg des Zersplitterten Reiches gegen den Toten König hineingezogen. Um die magische Wunde zu heilen, die ihn brandmarkt, muss er in den hohen Norden reisen – begleitet von Snorri ver Snagason, der ebenso sein Freund wie sein Untergang werden könnte. Wird Jalan die Fassade des oberflächlichen Taugenichts ablegen, um der Mann zu werden, den das Zersplitterte Reich braucht?

 

„Prince of Fools“ setzt die Lektüre der ersten Trilogie „The Broken Empire“ nicht voraus. Man kann die Abenteuer des Protagonisten Jalan durchaus genießen, ohne die drei vorausgegangenen Bände gelesen zu haben. Ich kann allerdings nicht leugnen, dass es den Spaßfaktor gewaltig erhöht. Der Auftakt von „The Red Queen’s War“ spielt chronologisch parallel zu „Prince of Thorns“ und fokussiert somit denselben Konflikt des Zersplitterten Reiches mit dem mysteriösen Toten König, dessen verderbte Magie die Nationen zu kompromittieren droht. In „Prince of Fools“ zeigt Mark Lawrence ein neues Schlachtfeld dieses Krieges und korrigierte meine Wahrnehmung desselbigen, den ich bisher als Jorgs persönlichen Feldzug betrachtete. Durch die Lektüre wurde mir bewusst, wie sehr ich mich damals von Jorg vereinnahmen ließ, was zwar für Lawrences brillante Konstruktion seiner Figur spricht, meine Einschätzung der Reichweite des Krieges jedoch fehlleitete. Der Vormarsch des Toten Königs gefährdet alle Staaten des Zersplitterten Reiches, nicht nur Jorgs Domäne. Außerdem begriff ich, dass die vielzitierte Düsternis der ersten Trilogie primär von ihrem feindlichen Protagonisten verursacht wird. Im direkten Vergleich gestaltet sich „The Red Queen’s War“ bisher wesentlich weniger grimmig, denn Jalan ist eine völlig andere Persönlichkeit und ermöglichte mir durch seine lockere Ausstrahlung eine entspanntere, zugänglichere Leseerfahrung. Er ist nahbarer, umgänglicher und offener, wodurch ich „Prince of Fools“ als leichter zu lesen empfand. Nichtsdestotrotz ist er eine faszinierende, komplexe Figur. Auf den ersten Blick erscheint er als egoistischer, opportunistischer Lügner, Spieler und Feigling. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei jedoch um eine irreführende Maske, die Jalan kultivierte, um sich nicht mit den Konsequenzen auseinandersetzen zu müssen, würde er sich eingestehen, dass er das Zeug zum Helden hat. Er ist eine Zwiebel; im Verlauf der Ereignisse schält sich der wahre Kern seines Wesens langsam heraus. Seine authentische Entwicklung wird nicht von einer unrealistischen Epiphanie ausgelöst, sondern ist das Resultat einer spannenden Umkehr des klassischen Motivs des Erwachens in der Fantasy: statt Jalan mit seiner dunklen Seite zu konfrontieren, zwingt Mark Lawrence ihn, das Licht in seiner Seele zu akzeptieren und anzuerkennen, dass er eben nicht nur ein Lump ist. Sein Reisegefährte Snorri hat daran großen Anteil, denn der prototypische Nordmann glaubt an das Gute in Jalan und behandelt ihn von Anfang an wie den Mann, der er sein könnte und nicht wie den Mann, den er oberflächlich verkörpert. Er dringt zu ihm durch, obwohl Jalan sich sehr anstrengt, ihn auf Distanz zu halten. Es bleibt abzuwarten, ob Jalan die Lektion, die Snorri ihn über sich selbst lehrt, in den Folgebänden tatsächlich anwenden kann oder in alte Verhaltensmuster zurückfällt.

 

Ich hatte viel Freude mit „Prince of Fools“. Es hat mir gefallen, zu erleben, dass es Mark Lawrence gelingt, eine völlig andere Herangehensweise an eine Geschichte zu nutzen, ohne ihr Spannungspotential zu beeinträchtigen. Er beweist, dass „The Broken Empire“ nicht die Grenze seines Talents darstellt. Sein neuer Protagonist Jalan hat wenig mit Jorg gemeinsam und vermittelt die Handlung spielerischer, humoristischer und beschwingter. Dennoch würde ich nicht zögern, „The Red Queen’s War“ ebenfalls als Grimdark einzustufen, weil das Zersplitterte Reich ein unnachgiebiges Setting ist, das Menschen zu grenzwertigen Entscheidungen zwingt. Es wird sicher aufregend, herauszufinden, welche Entscheidungen Jalan zukünftig abverlangt werden und inwiefern diese von den Plänen der Roten Königin beeinflusst sind, die Andeutungen zufolge nicht ganz unschuldig an seinen Erlebnissen in „Prince of Fools“ ist. Ich freue mich auf die Folgebände.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2020/01/21/mark-lawrence-prince-of-fools

Ich hätte gern meinen Kumpel zurück

— feeling tired
The Getaway God - Richard Kadrey

Die „Sandman Slim“-Reihe von Richard Kadrey spielt in Los Angeles. Da Kadrey die Stadt gut kennt, obwohl er selbst in San Francisco lebt, kann er der Handlung seiner Romane konkrete Landmarken zuordnen. Ich habe ein kurzes Video entdeckt, in dem Kadrey einige wichtige Orte in L.A., die im sechsten Band „The Getaway God“ eine Rolle spielen, vorstellt. Das war wirklich interessant, denn dadurch kann ich mir die Straßen, durch die sein Protagonist Stark so oft mit seiner Höllenmaschine donnert, wesentlich besser vorstellen. Das einzige Manko des Videos besteht darin, dass es nicht regnet. In „The Getaway God“ steht L.A. nämlich die Apokalypse bevor – und dem sonnenverwöhnten Kalifornien kündigt sich diese natürlich als Dauerregen an.

 

Manche Leute würden alles tun, um ihre eigene Haut zu retten. In Zeiten der Apokalypse kann „alles“ sogar bedeuten, sich einer Sekte anzuschließen, die jenen uralten Göttern huldigt, die die Welt zu verschlingen drohen. Die grausigen Tatorte voller Leichenteile, die Der Zorn Götter hinterlässt, um den Angra Om Ya den Weg zur Erde zu ebenen, erscheinen selbst dem ehemaligen Höllengladiator James Stark aka Sandman Slim unappetitlich. Allein das Qomrama Om Ya könnte die Invasion der Angra noch aufhalten – wenn Stark denn wüsste, wie es funktioniert. Um das herauszufinden, teilt ihm sein Boss beim Golden Vigil einen skurrilen Partner zu: die jahrhundertealte Mumie eines japanischen Mönchs. Leider ahnt nicht einmal der Shonin, dass die Angra nicht nur von irdischen Anhänger_innen hofiert werden. Die Entdeckung einer weitreichenden Verschwörung zwingt Stark, die eine Seele um Hilfe zu bitten, die er mehr als alle anderen hasst: Mason Faim. Natürlich traut er Mason nicht, aber vielleicht kann Stark von seinem Wissen profitieren, um die Apokalypse abzuwenden. Und wenn nicht, bleibt ihm zumindest die Genugtuung, seinen Erzfeind zweimal getötet zu haben.

 

Eines habe ich im Verlauf von „The Getaway God“ begriffen: wenn Stark nicht gerade übernatürliche Krisen abwendet, ist sein Leben ziemlich öde. Sicherlich nicht die ergiebigste Erkenntnis einer Lektüre, aber nichtsdestotrotz wahr. Sein ganz normaler Alltag besteht aus kaum mehr als unregelmäßigen Arbeitszeiten bei Max Overdrive, alarmierendem Alkoholkonsum entweder Zuhause oder in seiner Stammkneipe Bamboo House of Dolls und endlosen Filmnächten vor dem heimischen Fernseher, allein oder in Gesellschaft von Candy und/oder Kasbian. Klingt nicht gerade fesselnd? Ist es auch nicht und die Tatsache, dass mir diese unspektakulären Muster in „The Getaway God“ bewusstwurden, sagt viel darüber aus, wie aufregend dieser sechste Band ist. Obwohl L.A. die Apokalypse durch die uralten, rachsüchtigen Angra Om Ya bevorsteht, gelang es Richard Kadrey nicht, einen durchgängigen Spannungsbogen aufzubauen. Die Handlung folgt keiner erkennbaren Zielsetzung, sie wirkte wirr und improvisiert und langweilt mit häufigen Leerlaufphasen, in denen Stark Däumchen dreht und wartet. Die drohende Invasion übersteigt seine Kompetenzen vollkommen; er kann sich nicht länger mit markigen Sprüchen und Höllenhoodoo durchschummeln. Ihn so einfallslos zu erleben war für mich sehr frustrierend, denn die Rolle des hilflosen Amateurs passt überhaupt nicht zu meinem Bild von ihm als liebenswerter Chaot, der schon alles irgendwie hinkriegt. Meiner Meinung nach hätte Kadrey das Ausmaß seiner Überforderung elegant überspielen können, hätte er einigen der vielversprechenden Ansätze in „The Getaway God“ mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Allein Starks aufgezwungene Partnerschaft mit dem mumifizierten japanischen Mönch besitzt so viel ungenutztes Potential, dass ich mir die Haare raufen möchte. Der Autor hätte ihrer Beziehung mühelos den Anstrich einer grotesken und unterhaltsamen Cop Buddy – Romanze verpassen können, hätte er sie mehr Zeit miteinander verbringen lassen, statt Stark auf die Ersatzbank zu verbannen. Keine Ahnung, warum er es nicht getan hat, ob ihm nicht klar war, was er da in den Händen hält oder ob er glaubte, diese Nebenhandlung würde zu sehr ablenken. Ich kann nur resümieren, dass ich für jede Abwechslung dankbar gewesen wäre. Den erneuten Auftritt von Mason hingegen fand ich verwirrend und weit hergeholt. Echt, darf der Mann nicht einfach mal tot bleiben? Muss Kadrey ihn immer wieder wie einen Clown aus der Kiste hervorspringen lassen? Hat Stark es nicht verdient, dieses Kapitel endlich überwinden zu können? Mason verwickelt Stark natürlich in eines seiner Psychospielchen, das am Ende zum alles entscheidenden Showdown führt. Weder habe ich Masons Strategie verstanden noch Starks aus dem Stegreif zusammengeflickten Plan, um die Angra aufzuhalten. Was der sorgfältige Abschluss eines umfangreichen Handlungsbogens sein sollte, der die Reihe seit mehreren Bänden begleitet, erschien mir aus dem Ärmel geschüttelt und nicht überzeugend.

 

„The Getaway God“ schafft es nur mit Ach und Krach auf eine Bewertung mit drei Sternen. Versuchte ich, völlig objektiv zu urteilen und ließe alle Sympathiepunkte außer Acht, hätte das Buch maximal zwei Sterne erhalten dürfen. Es ist in sich unlogisch und inkongruent, ein inhaltlicher Flickenteppich, weshalb ich das Gefühl habe, die Geschichte des sechsten Bandes ist ausschließlich im größeren Kontext von Belang und dient lediglich dazu, das ganze Tohuwabohu mit den Angra abzuschließen. Ich hoffe, das ist jetzt auch endlich der Fall. Ich hoffe, Richard Kadrey macht einen Strich unter dieses Kapitel der „Sandman Slim“-Reihe und denkt sich neue Abenteuer für Stark aus, denen er tatsächlich gewachsen ist und in denen er seine Stärken ausspielen kann. Ich möchte ihn wieder Kontrolle auf die Handlung ausüben und nicht mehr von ihr getrieben sehen – auf seine eigene, chaotische Art und Weise. Er soll wieder der Stark sein, den ich in den ersten drei Bänden kennen und lieben lernte. Bitte Mr. Kadrey, geben Sie mir meinen Kumpel zurück.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2019/12/28/richard-kadrey-the-getaway-god

Zu wenig Spektakel, zu wenig Grimm, zu viel Jugendschmöker

— feeling bad smell
Königskrone - Joe Abercrombie, Kirsten Borchardt

Joe Abercrombies Bemühungen, das Universum der „Shattered Sea“Trilogie weniger patriarchalisch zu gestalten, stoppten nicht bei weiblichen Figuren. Um der Bruchsee eine einzigartige Kultur zu verleihen, entwarf er ein auf binären Paaren basierendes Götterpantheon, das die üblichen Gender-Assoziationen mit Aspekten der Welt umdreht. Typische „Männerdomänen“ erhielten eine Göttin, traditionell weibliche Bereiche hingegen einen Gott. Dadurch ergibt sich eine Beziehung zwischen dem oder der Gläubigen und der Gottheit, die beinahe an eine Ehe erinnert und automatisch gesellschaftliche Konflikte provoziert, weil die Gegensätzlichkeit der göttlichen Paare schwer vereinbar ist. Im Finale „Königskrone“ manifestiert sich dieser Konflikt besonders deutlich, denn die Bruchsee begibt sich – zum Unmut von Vater Friede – in die Arme von Mutter Krieg. 

 

Prinzessin Skara von Throvenland wollte eine tapfere Herrscherin sein. Doch als ihre Heimat von den Truppen des Hochkönigs überfallen und ihre Familie auf Großmutter Wexens Befehl ermordet wird, bleibt ihr keine andere Wahl, als ihren Mut hinunterzuschlucken und zu fliehen. Bei ihrer Cousine, Königin Laithlin von Gettland, findet sie Asyl. Fest entschlossen, ihr Königreich zurückzuerobern, schließt sie sich der Rebellion von Gettland und Vansterland gegen den Hochkönig und seine Gelehrte an. Sofort muss sich die 17-Jährige zwischen zwei starrsinnigen Königen behaupten und beweisen, dass sie mehr als ein verängstigtes junges Ding ohne Land ist. Zu Skaras Leidwesen wird die Bruchsee allerdings nicht allein von Königen regiert. Bald gerät sie in das undurchsichtige Netz des berüchtigten Vater Yarvi, der keine Skrupel hat, ihre Lage für seine Ziele auszunutzen. Noch immer lechzt der Gelehrte nach Rache und wird nicht eher ruhen, bis die gesamte Bruchsee in den Feuern von Mutter Krieg brennt. Ist Skara schon bereit für das gefährliche Spiel der Macht? 

 

Es fällt mir schwer, meine Gefühle für „Königskrone“ in Worte zu fassen. Joe Abercrombie zählt zu meinen Lieblingsautor_innen, deshalb sträubt sich alles in mir, die Kritik, die sich seit der Lektüre in meinem Kopf vehement Gehör verschaffen möchte, auszuformulieren. Meine Gegenwehr löste eine frustrierende Schreibblockade aus, sodass ich diese Rezension mehrfach angefangen und wieder verworfen habe. Ich ergebe mich mit einem Seufzen. Anscheinend ist die Kritik erst zufrieden, wenn sie aufgeschrieben ist. Also los. Ich bin enttäuscht vom Finale der „Shattered Sea“-Trilogie, weil… „Königskrone“ ein Young Adult – Roman ist. Puh. Jetzt ist es raus.  
„Shattered Sea“ richtet sich konzeptionell an ein jüngeres Publikum. Dennoch waren der Auftakt „Königsschwur“ sowie der Nachfolger „Königsjäger“ erfrischend reif, weil Abercrombie keine großen Unterschiede zwischen den Bedürfnissen der Zielgruppen sieht. Der Vorsatz, die Trilogie als All-Age-Fantasy zu schreiben, kam ihm im Finale offenbar abhanden. „Königskrone“ behandelt Themen und Motive, die so eindeutig der Jugendliteratur zuzuordnen sind, dass ich mich unangenehm an zahllose durchschnittliche Young Adult – Romane erinnert fühlte, trotz des Kontexts des Krieges. Schuld daran ist meiner Meinung nach die Ausrichtung auf die junge Königin Skara. Die Leser_innen bestreiten den Großteil des letzten Abenteuers auf der Bruchsee aus ihrer Perspektive, gelegentlich unterbrochen durch die Blickwinkel des Gelehrten-in-Ausbildung Koll, den ich bereits durch die Vorgänger kannte und des ruppigen Kriegers Raith. Sie alle sind sympathisch, aber leider völlig in ihrem privaten Teenagerdrama gefangen, weshalb ich „Königskrone“ als ausgesprochen jugendlich empfand. Der sprunghafte Koll hadert mit seiner Lehre bei Yarvi, kann sich nicht entscheiden, was er will und wie seine Zukunft aussehen soll. Raith lernt, dass es mehr im Leben gibt als Gewalt und beginnt, sein Potential zu erkennen. Seine wenig überzeugende Wandlung wird von der Begegnung mit Skara ausgelöst, die ihrerseits mit den zu erwartenden Konflikten einer zarten 17-Jährigen kämpft, die von heute auf morgen eine Rolle erfüllen muss, der sie sich nicht gewachsen fühlt. Demzufolge ist sie ein genaues Abbild des Stereotyps einer Young Adult – Heldin. Ihre Beziehung zu Raith ist ebenso klischeebehaftet und nimmt dem Kämpfer viel seiner ambivalenten Schärfe, was ich schade fand, weil er ohnehin der einzige ist, der „Königskrone“ Biss verleiht und an Schlachten aktiv teilnimmt. Der Verlauf des Krieges erschien mir berechenbar und nicht so ausgeklügelt, wie es die ehemals komplexe Situation zwischen Gettland, Vansterland und dem Hochkönig gerechtfertigt hätte. Das Kräftemessen hält wenig Überraschungen bereit, besonders, wenn man Yarvi kennt und war daher nicht so aufregend, wie ich gehofft hatte. Das Ende von „Königskrone“ entlockte mir dann allerdings doch noch einmal ein verblüfftes Auflachen, denn ich sehe darin ein letztes, deutliches Statement des Autors: ganz gleich, wie viele mutige Prinzessinnen, intrigante Gelehrte und furchteinflößende Krieger sich in seiner Geschichte tummeln, der Meister über Leben, Tod und alles dazwischen bleibt Abercrombie selbst. 

 

Heiß geliebte Autor_innen müssen es sich gefallen lassen, dass die Latte der Erwartungen ihrer Leser_innen besonders hoch angelegt ist. „Königskrone“ war nicht das fulminante Finale der Shattered Sea-Trilogie, das ich gern erlebt hätte. Es ist kein schlechtes Buch, aber von Joe Abercrombie erwarte ich eben einfach mehr: mehr Spektakel, mehr Grimm. Weniger Jugendschmöker. Obwohl ich verstehe, dass er mit Skara, Raith und Koll andere Facetten der Bruchsee illustrieren wollte, wäre ich perspektivisch lieber bei Yarvi, Dorn und Brand geblieben. Tja. Letztendlich wird „Königskrone“ als kleiner Makel in meine Beziehung zu Joe Abercrombie eingehen, der schnell vergessen ist. Denn das ist der Vorteil daran, ein heiß geliebter Autor zu sein: man hält ihm die Treue. 

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2019/12/22/joe-abercrombie-konigskrone

Einmal um die halbe Welt

— feeling beaten
Königsjäger: Roman - Joe Abercrombie, Kirsten Borchardt

Bereits als Joe Abercrombie den dritten Band seiner „First Law“-Trilogie schrieb, „Königsklingen“, wurde ihm bewusst, dass er sich in Sachen Gleichberechtigung nicht mit Ruhm bekleckert hatte. Nicht nur ist das „First Law“-Universum ein striktes Patriarchat, er hatte auch vergleichsweise wenig weibliche Charaktere in die Geschichte integriert. In seiner „Shattered Sea“-Trilogie wollte er das ändern. Da Gettland eine von den Wikingern inspirierte Gesellschaft darstellt, konnte er Frauen wichtige Aufgaben übertragen: finanzielle Entscheidungen, Handel und Haushaltsführung liegen ganz in weiblicher Hand. Dennoch gibt es sogar in Gettland Ausnahmen. Eine dieser Ausnahmen ist die Protagonistin des zweiten Bandes „Königsjäger“, Dorn Bathu.

 

Alles, was Dorn Bathu je wollte, ist, für ihr Land und ihren König zu kämpfen. Sie ist nicht wie andere Mädchen: weder kann sie nähen, noch kochen und sie versteht auch nichts von Haushaltsführung. Sie versteht sich nur auf den Gebrauch eines Schwertes. Leider hat ihr Ausbilder etwas dagegen, dass eine Frau die Truppen Gettlands verstärkt und stellt ihr während ihrer letzten Prüfung eine unmögliche Aufgabe. Dorn scheitert – mit fatalen Folgen. Geächtet und verzweifelt erwartet sie das Urteil ihres Königs. Doch als sich ihre Zelle öffnet, steht dort nicht der Vollstrecker, sondern Vater Yarvi. Der Gelehrte bietet ihr an, sie rauszuholen, im Austausch für ihre Dienste. Sie soll ihn auf eine völlig verrückte Reise um die halbe Welt begleiten, als Mitglied der seltsamsten Crew, die jemals ein Schiff bemannte. Vater Yarvis undurchsichtige Pläne sind Dorn ein Rätsel. Aber was hat sie schon zu verlieren?

 

Ja! Ich fand „Königsjäger“ deutlich besser als den ersten Band „Königsschwur“! Ich habe mich während der Lektüre beobachtet: ich freute mich viel mehr aufs Lesen und wollte meist nicht unterbrechen, hatte ich einmal angefangen. Das war mit dem Trilogieauftakt nicht der Fall und ist ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass mich die Geschichte des zweiten Bandes verstärkt fesselte. Einerseits lag meine positivere Leseerfahrung sicher daran, dass ich mich mit Joe Abercrombies konzeptioneller Herangehensweise an „Shattered Sea“ bereits abgefunden hatte und mich die erneut auftretenden Zeitsprünge weniger störten. Diese gestalteten sich teilweise abermals recht abrupt, ich hatte allerdings seltener das Gefühl, dass dadurch entscheidende Entwicklungen ausgelassen wurden. Andererseits konnte ich mich mit Dorn als Protagonistin wesentlich besser anfreunden als mit Yarvi in „Königsschwur“. Wo Yarvi intrigant und verschlossen ist, ist Dorn gradlinig und direkt. Sie handelt nicht immer sympathisch, doch es fiel mir leichter, ihre Entscheidungen, Motivationen und Prioritäten nachzuvollziehen, wodurch ich eine tiefere Verbindung zu ihr aufbauen konnte. Außerdem empfand ich es als hilfreich, dass Abercrombie Dorns kompromissloser Härte die sanfte Güte ihres Ruderpartners Brand gegenüberstellt, der Yarvi ebenfalls auf seiner Reise in seiner offiziellen Funktion als Gelehrter begleitet. Gemeinsam krempeln sie Gettlands Geschlechterrollen auf links, denn beide verkörpern jeweils genau das Gegenteil dessen, was gesellschaftlich von ihnen erwartet wird. Trotz der höheren Präsenz weiblicher Figuren in „Königsjäger“ wäre es ein Trugschluss, anzunehmen, das Universum der „Shattered Sea“-Trilogie sei feministisch. Es existiert keine wahre Gleichberechtigung, weil „männliche“ und „weibliche“ Domänen sehr klar abgesteckt sind und Übertretungen der Grenzen durchaus Folgen haben, die Dorn und Brand am eigenen Leib erfahren. Ebenso erleben sie die Auswirkungen einer prekären politischen Situation, auf die sie selbst keinen Einfluss haben. Dieser indirekte Blickwinkel gefiel mir hervorragend, weil „Königsjäger“ dadurch überraschend politisch ist, ohne diejenigen zu fokussieren, die die Machtströmungen der Bruchsee konkret repräsentieren, sondern die daraus resultierende, greifbare Realität für das einfache Volk. Demzufolge empfand ich auch die Kampfszenen als mitreißender, denn im Gegensatz zu Yarvi sind Dorn und Brand mittendrin. Dennoch faszinierte es mich, Yarvi diesmal von außen zu betrachten, zu studieren, wie er auf andere wirkt und welchen Ruf er sich in seiner relativ kurzen Zeit als Gelehrter bereits erarbeitete. Er ist wirklich ein verflixt gerissener Intrigant, der weitreichende Pläne verfolgt. Er beeindruckte mich, obwohl ich finde, dass seine Absichten und Strategien recht gut lesbar sind, hat man erst verstanden, wie er tickt. Deshalb bin ich sicher, dass Yarvi mit der Bruchsee noch nicht fertig ist. Sein Konflikt mit dem Hochkönig und dessen Gelehrter Großmutter Wexen ist noch nicht gelöst. Ich bin gespannt, was er sich im Finale „Königskrone“ einfallen lässt, um diesen beiden endgültig ihre Machtpositionen zu entreißen.

 

Meiner Meinung nach entspricht „Königsjäger“ eher dem unverwechselbaren Stil, den Fans (wie ich) von Joe Abercrombie gewohnt sind. Der zweite Band der „Shattered Sea“-Trilogie führt die Geschichte um Yarvi zwar konsequent weiter, bedient sich dafür jedoch anderer Charaktere, die viel mehr an die Figuren der „First Law“-Romane erinnern und deren Profile die Handlung actionreicher und schwungvoller gestalten. Ich mochte Dorn und Brand sehr, weil sie für mich nahbarer waren als der reservierte Yarvi, der sich so ungern in die Karten schauen lässt. Ihre Reise um die halbe Welt greift erneut den Coming of Age – Aspekt auf, konfrontiert sie – manchmal unangenehm – mit ihrer Selbstwahrnehmung und stellt sie vor die Wahl, was für Menschen sie künftig sein wollen. Ganz nebenbei lernte ich das Universum des Dreiteilers dadurch besser kennen und begriff, dass der Bruchsee Krieg bevorsteht. „Shattered Sea“ ist nicht nur die Geschichte des Racheschwurs eines einzelnen Mannes – es ist die Geschichte einer Welt im Wandel und somit doch ganz typisch Abercrombie.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2019/12/12/joe-abercrombie-konigsjager

Abercrombie light

— feeling pirate
Königsschwur: Roman - Joe Abercrombie, Kirsten Borchardt

„Königsschwur“ von Joe Abercrombie erschien 2014 als Auftakt der Trilogie „Shattered Sea“ – zwei Jahre, nachdem er sechs umfangreiche Bände in seinem „First Law“-Universum veröffentlicht hatte. Abercrombie war seiner eigenen Schöpfung müde und wollte etwas Neues versuchen. „Königsschwur“ ist seine Auslegung des Young Adult – Genres. Kitschiges Teenagerdrama sucht man bei ihm dennoch vergeblich, denn seiner Ansicht nach sind junge Erwachsene eben auch Erwachsene, weshalb ihre literarischen Bedürfnisse nicht allzu stark abweichen. Der größte Unterschied zu seinen „First Law“-Romanen liegt im Alter des Protagonisten: Prinz Yarvi ist deutlich jünger, wodurch die Geschichte einen Coming of Age – Aspekt enthält. Aber Abercrombie wäre nicht Abercrombie ohne eine ordentliche Portion Blut und Grimmigkeit. Deshalb überrascht es nicht, dass „Königsschwur“ das Motiv der Rache behandelt. 

 

Prinz Yarvi wollte nie König werden. Er weiß, dass er mit seiner schmächtigen Statur, der verkrüppelten linken Hand und seiner Liebe zu Büchern nicht das Abbild eines Herrschers verkörpert, wie ihn sich das Volk von Gettland wünscht. Glücklicherweise ruht die Bürde des Thronfolgers auf den Schultern seines Bruders, sodass es Yarvi freisteht, den Weg eines Gelehrten einzuschlagen. Doch leider dreht sich der Wind im hohen Norden manchmal innerhalb eines Wimpernschlags. Als sein Vater und sein Bruder im benachbarten Vansterland ermordet werden, bleibt Yarvi keine andere Wahl, als den Schwarzen Thron zu besteigen. Er schwört blutige Rache und befiehlt einen raschen Gegenschlag. Noch bevor die Kämpfe beginnen, wird er verraten. Verkauft als Sklave verschlägt es ihn in die entlegensten Gegenden der Bruchsee. Aber sein Wille ist ungebrochen. Denn das Gesetz der Rache kennt keine Gnade. 

 

Ich wusste vor der Lektüre nicht, dass „Königsschwur“ Joe Abercrombies Version eines Jugendromans darstellt. Hätte ich es gewusst, hätte ich vermutlich einige Aspekte der Geschichte und des Handlungsverlaufs anders bewertet. Ich freute mich auf einen typischen Abercrombie, was ich hingegen bekam, war „Abercrombie light“. Ich erkannte seine unnachahmliche Handschrift, doch meine Erwartungen wurden nicht vollständig erfüllt. Der Auftakt der „Shattered Sea“-Trilogie weist nicht dieselbe Liebe zum Detail auf, die mich in seinen „First Law“-Romanen begeisterte. Das Buch ist eine schnellere, oberflächlichere Variante seiner übrigen Arbeit. Mittlerweile weiß ich, dass das genauso beabsichtigt war, aber während der Lektüre wunderte ich mich über das ungenutzte Potential der Geschichte. Größere Zeitsprünge diktierten ein höheres Tempo und eine weniger sorgfältige Taktung, was wiederum in eine weniger tiefgreifende Charakterisierung der Figuren resultierte. Ich fand das schade, denn mich hätten die übersprungenen Abschnitte der abenteuerlichen Reise des Protagonisten Yarvi ebenfalls interessiert, gerade bezüglich ihrer Bedeutung für seine persönliche Entwicklung. Wie es sich für Young Adult – Literatur gehört, ist die Coming of Age – Ebene in „Königsschwur“ sehr deutlich und klar definiert, obwohl Abercrombie hierfür ungewöhnlich harte Bedingungen aufstellt, die er explizit porträtiert. Als Sklave erwachsen zu werden, ist für Yarvi selbstverständlich kein Zuckerschlecken. Dennoch haben die brutalen Umstände, die ihm aufgezwungen werden, einen maßgeblichen Einfluss auf sein Selbstverständnis, der ihm als Prinz oder König von Gettland verwehrt geblieben wäre. Am Anfang der Geschichte hadert er mit seiner Rolle in der kriegerischen Gesellschaft des nordischen Königreichs, in dessen Kontext Abercrombie wenig Experimente wagt, sich auf eine klassische Darstellung der Wikinger verlässt und bisher kaum übernatürliche Elemente involviert. Da Yarvi mit einer Missbildung seiner linken Hand geboren wurde und sich körperlich nicht als Kämpfer qualifiziert, ist er ein Außenseiter, notgedrungen toleriert, weil er zur königlichen Familie gehört. Niemand respektiert ihn. Er kann sich nicht einmal selbst leiden. Erst während der Strapazen der Zwangsarbeit lernt er, die scharfen, tödlichen Waffen seines Verstandes effektiv einzusetzen. Er beginnt, sich wirklich mit seiner Intelligenz zu identifizieren und diese als Zentrum seiner Selbstwahrnehmung zu etablieren. Je mehr Selbstbewusstsein er aus seinem Intellekt bezieht, desto irrelevanter erscheint ihm sein verhängnisvoller Racheschwur. Ich mochte, dass sich seine Einstellung ändert und er seinen Eid verflucht, denn eigentlich passt dieses Versprechen roher Gewalt nicht zu ihm. Allerdings kann Yarvi als Gettländer nicht aus seiner Haut; seine Herkunft erlaubt ihm nicht, ein Unrecht einfach zu vergeben und so verfolgt er seinen Schwur mit aller Konsequenz – deshalb fügt sich „Königsschwur“ inhaltlich trotz konzeptioneller Unterschiede nahtlos in Joe Abercrombies Gesamtwerk ein. Blut, Gewalt und Tod sind eben seine Markenzeichen. 

 

Obwohl „Königsschwur“ nicht meinen Erwartungen entsprach, bin ich froh, dass Abercrombie sogar in einem Jugendroman als Abercrombie erkennbar ist. Mir gefällt es, wie gelassen er diesen Rahmen interpretiert, denn ich halte die Unterstellung, junge Erwachsene könnten nicht mit expliziten Darstellungen umgehen, für Unsinn. Der Trilogieauftakt erschien mir etwas weniger aufregend als die „First Law“-Romane, weil der Protagonist Yarvi eben kein Krieger ist und selten aktiv an Kampfszenen teilnimmt, doch die politisch aufgeladene Handlung, die interessante Konsequenzen für die Folgebände impliziert und einige Überraschungen bereithält, entschädigte mich dafür. Das einzige, was mich ehrlich wurmte, war meine flache Bindung an Yarvi, die meiner Ansicht nach darin begründet war, dass ich entscheidende Stationen seiner Entwicklung nicht miterleben durfte. Hoffentlich verzichtet Abercrombie in der Fortsetzung „Königsjäger“ auf allzu große Zeitsprünge. 

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2019/12/10/joe-abercrombie-konigsschwur

Grenzenlos enttäuschend

Tarnished - Kate Jarvik Birch

Auf ihrer Website erklärt Kate Jarvik Birch, ihre Liebe zum Schreiben sei in ihrer Kindheit erblüht. Was sie nicht erwähnt, ist, dass diese Leidenschaft in der Familie liegt. Ihre Mutter, Elaine Birch, arbeitete 30 Jahre als Journalistin, bevor sie eine Karriere als Bühnenautorin einschlug. 2011 wurde das erste gemeinsame Stück von Mutter und Tochter, „(a man enters)“, in ihrer Heimat Salt Lake City uraufgeführt. Die Kritiken nahmen es überwiegend positiv auf. Ihren Debütroman veröffentlichte Kate Jarvik Birch erst Jahre später, aber ich glaube, der Erfolg des Stückes verlieh ihr das nötige Selbstbewusstsein, ohne das ich „Tarnished“, den zweiten Band der „Perfected“-Trilogie, heute vielleicht nicht für euch besprechen würde.

 

Ella wurde als Sklavin geboren. Sie ist ein im Labor perfektioniertes Haustier, gezüchtet, um reichen Familien Freude zu bereiten. Doch ihren freien Willen konnten ihr weder die Genetik noch ihr Besitzer nehmen. Die verbotene Liebe zu seinem Sohn Penn verlieh ihr den Mut, ihre Ketten zu sprengen und gemeinsam mit ihm nach Kanada zu fliehen. Leider wurde das Paar an der Grenze getrennt; nun befindet sich Ella in einem Flüchtlingslager für entlaufene Haustiere in Kanada, während Penn in den USA dem Zorn seines Vaters ausgeliefert ist. Ellas spektakuläre Flucht hatte allerdings viel dramatischere Konsequenzen, als die beiden jemals vermuteten: eine grausame Mordserie erschüttert das Land. Die Opfer sind Haustiere. Wenn ihretwegen junge Mädchen wie sie selbst getötet werden, kann Ella nicht tatenlos zusehen. Unterstützt von der ruppigen Missy nimmt sie den gefährlichen Weg zurück in die USA auf sich und wagt sich in die zwielichtige Welt der Schwarzmärkte, um Penn zu retten und ihren Leidensgenossinnen zu helfen. Sie wird nicht zulassen, dass andere den Preis für ihre Freiheit zahlen.

 

Oh man. Diese Fortsetzung hätte nicht sein müssen. Es wäre besser gewesen, hätte „Tarnished“ nie das Licht der Welt erblickt. Ich war am Ende von „Perfected“ bereits skeptisch, ob ein zweiter Band der Geschichte eventuell eher schadet als sie zu bereichern – ich bedauere, dass ich Recht hatte. Was mir an dem Trilogieauftakt besonders gefiel, war die sanfte, zerbrechliche Note der Erzählung aus der Ich-Perspektive der Protagonistin Ella. Da Ella im Genetiklabor der Firma NuPet mit dem ausdrücklichen Ziel gezüchtet wurde, als gehorsames, graziles Haustier in eine reiche Familie aufgenommen zu werden, ist sie ein unschuldiger, naiver Charakter ohne jegliche Lebenserfahrung. Mit der Handlung des ersten Bandes harmonierte dieses Profil hervorragend. In „Tarnished“ hingegen beißt sich Ellas zarte Charakterisierung mit den actionreichen Ereignissen. Sie passt nicht in diese Handlung und ist keine glaubhafte Heldin, weil sie viel zu schwach ist, um überzeugend die Initiative zu ergreifen. Um ihre Schwäche zu überspielen stellt ihr Kate Jarvik Birch die resolute Missy zur Seite, die sie ganz praktisch aus dem Hut zaubert, sobald Ella an ihre eng gesteckten Grenzen stößt – also innerhalb des ersten Kapitels. Zu Beginn des Buches befindet sich Ella in einem Flüchtlingslager in Kanada, aus dem sie zu entkommen versucht, weil sie meint, ihre große Liebe Penn aus den Fängen seines sadistischen Vaters befreien zu müssen. Dass sie ihn durch ihre Anwesenheit möglicherweise zusätzlich gefährdet, kommt ihr nicht in den Sinn und wohin sie mit ihm fliehen möchte, will sie offensichtlich spontan entscheiden. Es ist dieser Egoismus, getarnt als unsterbliche Liebe, der mich in Young Adult – Romanen immer wieder aufregt. Dummerweise ist Ella nicht einmal in der Lage, sich allein unentdeckt vom Gelände des Lagers zu schleichen. Auftritt Missy. Woher sie kam, Kilometer entfernt von ihrer Heimat in den USA, wird nie geklärt und wieso sie Ella hilft, obwohl die beiden kaum als Freundinnen bezeichnet werden können, ist ebenso ungewiss. Sie ist da, weil Birch sie brauchte, um die weitere Handlung von „Tarnished“ anzustoßen. Auf sich selbst gestellt hätte Ella es nämlich niemals zurück in die USA geschafft. Missy führt Ella in die zwielichtige Welt der Schwarzmärkte ein, die einzige Möglichkeit für entlaufene oder ausrangierte Haustiere, zu überleben. In diesem Rahmen nervte mich Ellas Naivität maßlos, weil sie nicht erkennt, was die Mädels hinter verschlossenen Türen tun müssen, um nicht auf der Straße zu enden. Von dort aus machen sie sich auf den Weg zu Penn – der Startschuss für einen Handlungsverlauf, der an mangelnder Logik und Plausibilität kaum zu unterbieten ist. Die Hintergründe für und die Reaktion der Bevölkerung auf die Mordserie an Haustieren sind meiner Meinung nach vollkommener Unsinn. Birchs Szenario ist dermaßen unrealistisch, dass es mich ärgerte. Als ob ich wirklich jeden Quatsch glauben würde, nur weil er gedruckt wurde.

 

Ich fand „Tarnished“ grenzenlos enttäuschend. Mit dieser Fortsetzung nötigt Kate Jarvik Birch die Geschichte in eine Richtung, die sowohl ihrem Wesen als auch dem Charakter der Protagonistin und Ich-Erzählerin völlig widerspricht. Man kann ein verletzliches, sensibles Mädchen wie Ella nicht zwingen, im Eiltempo ihre Kämpfernatur zu entdecken. Genau das erwartet Birch jedoch von ihr und deshalb wirkt sie fehl am Platz und kann den Entwicklungen allein nicht gerecht werden. Der zweite Band verlangt eine Heldin, die Ella nicht sein kann. Diese Fehleinschätzung der Autorin erweckt mein Mitleid für Ellas Figur, weil es unfair ist, ihr eine Handlung zuzumuten, die ihren Horizont weit übersteigt und der sie nicht gewachsen ist. Darüber hinaus tat sich Birch auch selbst keinen Gefallen mit „Tarnished“, denn sie präsentiert ein äußerst abwegiges Handlungskonstrukt, das den positiven Eindruck, den ich nach „Perfected“ von ihr hatte, beinahe komplett entwertete. Ich werde das (mutmaßliche) Finale „Unraveled“ nicht mehr lesen. Ich möchte nicht erleben, durch welche unmöglichen brennenden Reifen Birch die arme Ella noch springen lassen will.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2019/11/19/kate-jarvik-birch-tarnished

Ziehen Sie nach Stepford - vergessen Sie Feminismus!

— feeling terminator
The Stepford Wives - Ira Levin

„The Stepford Wives“ von Ira Levin erschien 1972. Damit fiel die Veröffentlichung zufällig (?) in das Jahr, in dem das Equal Rights Amendment vom US-Senat angenommen wurde. Dieser Verfassungszusatz sollte die Gleichstellung der Geschlechter in den USA vorantreiben und Frauen weitreichende Rechte zusichern, stieß in den Bundesstaaten jedoch auf erbitterten Widerstand. Gegner_innen des ERA beriefen sich auf traditionelle Geschlechterrollen, prophezeiten, dass Frauen zum Militärdienst gezwungen und schützende Gesetze, die zum Beispiel Unterhaltsansprüche regelten, null und nichtig würden. Phyllis Schlafly, eine der Schlüsselfiguren der Oppositionsbewegung, behauptete, der Zusatz sei lediglich ein Vorteil für junge Karrierefrauen, der die Sicherheit von Hausfrauen im mittleren Alter, die keinen Beruf erlernt hatten, hingegen bedrohte. In diesem Kontext war „The Stepford Wives“ beinahe prophetisch, denn darin geht es um eben jene Hausfrauen, die Schlafly gefährdet sah.

 

Als Joanna und Walter Eberhart mit ihren Kindern nach Stepford zogen, hofften sie, ein neues Leben fernab vom Trubel der großen Stadt beginnen zu können. Stepford ist ein malerisches Idyll ruhiger Straßen und freundlicher Nachbarn, ein Paradies des gehobenen Mittelstandes. Doch während sich die Kinder schnell einleben und Walter Anschluss in der exklusiven Men’s Association findet, wird Joanna das Gefühl nicht los, dass sich hinter der lächelnden Fassade des Örtchens ein schmutziges Geheimnis verbirgt. Es sind die Frauen. Sie sind nett und höflich, aber sie scheinen neben der obsessiven Erfüllung ihrer Haushaltspflichten keine Interessen zu haben. Sie sind zu perfekt. Irgendetwas stimmt nicht in Stepford und Joanna muss herausfinden, was vor sich geht – bevor es zu spät ist.

 

„The Stepford Wives“ ist ein feines Kleinod feministischer Literatur, das vermutlich viel zu oft übersehen, vergessen oder missverstanden wird. Es ist ein knackiger, pointierter Klassiker der Science-Fiction, der vollkommen auf das Wesentliche destilliert ist und demzufolge darauf schließen lässt, dass Ira Levin unglaublich selbstkritisch gewesen sein muss. Ich bestaune die Ökonomie dieses Buches, das sicher zahllose Überarbeitungen durchlief, um kein einziges überflüssiges Wort zu enthalten. Jede Szene ist bewusst integriert, schmückendes Beiwerk sucht man vergeblich. Dennoch liest es sich leicht, flüssig und keineswegs konstruiert, weshalb man beinahe Gefahr läuft, es als belanglos abzustempeln. Beinahe. Denn oh, hinter Levins präzisem Schreibstil verbirgt sich eine beklemmende Geschichte, die lupenreine feministische Kritik an den traditionellen Genderrollen übt. Die Protagonistin Joanna Eberhart ist eine ganz normale Hausfrau und Mutter. Sie führt eine glückliche Ehe, pflegt ein paar Hobbys und erfüllt ihre Pflichten zuverlässig. Doch kaum, dass sie mit ihrer Familie in der US-amerikanischen Vorstadtidylle Stepfords angekommen ist, muss sie feststellen, dass sie ungenügend ist. Ihre überdurchschnittlich attraktiven Nachbarinnen leben ein Maß an Perfektion vor, mit dem sie nicht konkurrieren kann: sie absolvieren Haushaltsaufgaben mit unmenschlicher, pedantischer Disziplin und zeigen keinerlei Interesse an sozialen Kontakten oder einer individuellen Freizeitgestaltung, wodurch sich bei Joanna und den Leser_innen schnell das Bewusstsein einschleicht, dass es in Stepford nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Diese Ahnung entwickelt sich bald zur Gewissheit; Levin verband geschickt diskrete Hinweise und drastische Vorkommnisse, um seine Leserschaft zu befähigen, eigene Schlüsse zu ziehen und zu erkennen, dass Joanna in Gefahr schwebt. Das leise Ticken einer Uhr, eines Countdowns für die Protagonistin begleitet die Geschichte von „The Stepford Wives“ unaufdringlich, sodass beispielsweise die subtile, graduelle Verschiebung in Joannas Beziehung zu ihrem Ehemann Walter zuerst gar nicht auffällt. Langsam verbringt er immer mehr Zeit in der nebulösen „Men’s Association“ und strahlt zunehmend eine vage Unzufriedenheit aus, die er niemals konkret benennt. Wieder ist es den Leser_innen überlassen, sich den Einfluss dieses „Männer-Clubs“ auszumalen. Spannung entsteht in „The Stepford Wives“ durch die eigene Fantasie, durch Andeutungen und Vermutungen, nicht durch klare Aussagen des Autors. Dennoch lässt Levins Inszenierung keine Zweifel daran aufkommen, dass alle verdächtigen Anhaltspunkte in der „Men’s Association“ zusammenlaufen. Ohne den Fokus von den unnatürlich agierenden Hausfrauen abzulenken, offenbarte er auf diese Weise unmissverständlich, wer das wahre Ziel seiner überspitzten Satire ist: ihre Ehemänner. Die Idee einer Stadt voller perfekter Gattinnen, die überholten, sexistischen und stereotypen Männerfantasien entsprechen, ist wohl kaum einem weiblichen Hirn entsprungen.

 

1972 griff „The Stepford Wives“ den Zeitgeist auf. Ob Ira Levin ahnte, dass sein Roman bis heute relevant sein würde, bleibt Spekulation. Das Buch wird niemals an Aktualität einbüßen, solange traditionelle Genderrollen verteidigt und unterstützt werden. Es ist brillant. Levin erzielte mit minimalen Mitteln maximale Wirkung, weil er Implikationen konkreten Erklärungen vorzog. Indem er die Handlung absichtlich auf blinden Flecken und wohlplatzierten Anspielungen aufbaute, erhöhte er das unheimliche Potential seiner Geschichte. Diese akkurate, kontrollierte Konstruktion erforderte Disziplin und ein exaktes Gespür für subtile Manipulationen, aber auch den Mut, sich auf die Vorstellungskraft der Leser_innen zu verlassen. Dafür bewundere ich Levin zutiefst. Schade ist lediglich, dass „The Stepford Wives“ bei Verfechter_innen klassischer Geschlechterrollen vermutlich nicht auf fruchtbaren Boden fallen wird. Nur, wer Emanzipation offen gegenübersteht, wird erkennen, dass Stepford kein Paradies ist, sondern ein Albtraum.

Quelle: http://wortmagieblog.wordpress.com/2019/11/13/ira-levin-the-stepford-wives

Ich lese gerade

Die Fließende Königin
Kai Meyer
Bereits gelesen: 68/271 pages
Die große Enzyklopädie der Serienmörder
Fatima Awwad, Robert Zingerle, Jaques Buval, Mike Newton
Bereits gelesen: 40/534 pages
Grashalme
Walt Whitman
Bereits gelesen: 21 %
United States of America: Geschichte und Kultur. Von der ersten Kolonie bis zur Gegenwart
Bernd Stöver